Das Ende einer Ära, die nie begonnen hat
Wieso Kevin Kühnerts Rücktritt so beschäftigt. Und warum politische Skandale den Schutz der Masse suchen wie Zebras und Fische.
Rücktritte gehören zur Demokratie unweigerlich dazu. Demokratie setzt voraus, dass man Politik zur Verantwortung ziehen, dass man friedliche Machtwechsel herbeiführen kann, dass Entscheidungen revidierbar sind, und das setzt voraus, dass das politische Personal nicht einfach immer und immer weiter macht.
Trotzdem treibt mich der Rücktritt von Kevin Kühnert um, er kommt mir bedeutsamer vor als viele andere Rücktritte, obwohl er nur SPD-Generalsekretär war.
Ich habe ein bisschen gegrübelt, warum das so ist, und ich glaube nicht, dass es daran liegt, dass er aus meiner eigenen Generation kommt. Auch nicht nur daran, dass er sich erkennbar Mühe gibt, keinen Kokolores zu reden, was man nicht über alle sagen kann.
Ich glaube, es ist eher so: Es fühlt sich so an, als gehe eine Ära zu Ende, die nie begonnen hat.
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Kühnert war von Anfang in vielerlei Hinsicht offensichtlich einer der begabtesten Politiker, nicht nur seiner Generation. Ich habe damals, als er noch Juso-Chef war und seine Anti-Groko-Kampagne ihn bekannt machte, auch viel über die SPD berichtet. Die Partei wusste damals nicht, wer sie war, und die Wähler*innen wussten nicht, warum, sie das kümmern sollte. Kühnert war die Ausnahme.
Wenn jemand schlicht Interesse bei den Menschen erzeugte, war das Kühnert. Das ist noch keine Politik, aber es ist doch bemerkenswert.
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Kühnerts Rückzug wird dieser Tage gern vermengt mit dem Rücktritt von Ricarda Lang als Bundesvorsitzende der Grünen. Das ist ein bisschen unfair Felix Banaszak gegenüber, dem designierten neuen Grünen-Co-Chef, der noch 34 ist und unter anderen Umständen als bemerkenswert junger Parteichef auffallen würde. Stattdessen herrscht der Eindruck vor: auch bei den Grünen werden die Jungen gedrängt.
Daran ist vieles falsch, aber ich glaube, es liegt neben den offenkundigen Fähigkeiten der beiden an der Zeit, in der sie aufgestiegen sind.
Sie kamen in der Spätphase der Merkel-Ära nach oben, in einem Moment, in dem man wusste, dass etwas zu Ende geht, aber noch nicht, was darauf folgen würde.
Es war eine Zeit, in der der Jugend geradezu messianische Hoffnungen entgegengebracht wurden. Ich erinnere mich an so viele Gespräche, vor allem zu Klimathemen, in denen die Antwort auf die Frage, was Hoffnung mache, war: die Jugend.
Rettet uns, das war immer die Botschaft, wir selbst sind zu schwach.
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Es war auch eine Zeit, in der ein anderer Zeitgeist zu herrschen schien. Wahrscheinlich können Kevin Kühnert und Ricarda Lang nicht zählen, auf wie vielen Podien sie gemeinsam saßen, und oft mit einem dritten, Konstantin Kuhle von der FDP.
Der gehörte zu einer Riege aufstrebender Liberaler, neben Johannes Vogel, Gyde Jensen, Lukas Köhler, Benjamin Strasser, die den Eindruck entstehen lassen konnten, dass die FDP sich nachhaltig vom Kubicki-Flügel wegbewegen würde. Stattdessen bewegte sich Kubicki weg vom damaligen Kubicki-Flügel, aber in die andere Richtung.
Die jungen liberalen Liberalen sind heute in wichtigen Positionen in der Fraktion, den wahrnehmbaren Kurs prägen die anderen. Lang ist erstmal in die zweite Reihe zurückgetreten, Kühnert zieht sich aus der Politik zurück.
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Man meinte zu wissen, in welche Richtung sich Politik entwickeln würde. Und in jedem Fall meinte man zu wissen, dass Kühnert, Lang und Kuhle darin eine Rolle spielen würden.
Was gewiss schien, erwies sich als falsch. Darin liegt die Größe dieses eigentlich so gewöhnlichen Moments.
Darin steckt natürlich eine sehr grundlegende Einsicht: Man sollte sich nie zu sicher sein, was politische Entwicklungen angeht. Was unausweichlich aussieht, ist stets nur eine Möglichkeit. Gesellschaften sind nicht berechenbar, Politik ist es nicht.
Man sollte sich also nie zu sicher sein, dass es so kommt, wie man es sich wünscht. Man sollte sich aber umgekehrt auch nie zu sicher sein, dass es so kommt, wie man fürchtet.
Vor einer Weile habe ich hier eine kleine Analyse beschrieben, die ich aus Interesse versucht habe. Ich wollte wissen, ob man Muster findet, wenn man die Intensität der Berichterstattung über Migration mit dem Ausmaß vergleicht, in dem Menschen Migration als Problem empfinden.
Das Ergebnis: Die Problemwahrnehmung scheint nicht losgelöst zu sein von den realen Fluchtbewegungen, noch viel stärker aber scheint sie der Berichterstattung zu folgen.
Jetzt habe ich das ganze nochmal um Umfragewerte der Union und der AfD ergänzt und mir angeschaut, ob es Muster gibt.
Was sich zeigt: Sowohl AfD als auch Union steigen in Phasen, in denen Migration stärker als Problem wahrgenommen wird, und fallen, wenn das weniger so ist. Der Effekt ist allerdings wenig überraschend stärker für die AfD.
Aber zwischen der Menge an Zeitungsartikeln über Migration in den zwei Wochen vorher und den Umfragewerten gibt es bei der Union für 2023 und 2024 keinen erkennbaren Zusammenhang. Bei der AfD gibt es ihn sehr wohl.
Das stärkt erneut die Vermutung, die ihrerseits auf reichlich Forschung gründet: Wenn Migration großes Thema ist, dann hilft das der AfD. Der Union eher nicht.
Für die Sozialwissenschaftler*innen hier ein paar einfache Regressionstabellen. Union:
Und AfD:
Eigentlich wollte ich diese Woche auch über die Österreich-Wahl schreiben, über das FPÖ-Ergebnis, über strukturelle Faktoren, die die Ähnlichkeiten in so vielen Ländern erklären; über die Frage, ob die sozialdemokratisch geprägten Gesellschaften des Westens eine Folge einer spezifischen historischen Konstellationen waren und darüber, in welchem Ausmaß die Konflikte unserer Zeit eine Folge der aktuellen Großmächtekonstellation sind - aber das schaffe ich nicht.
Ein andermal also, aufgeschoben, nicht vergessen.
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Nicht, dass ich hier je Regelmäßigkeit angekündigt hätte, aber da es bisher Regelmäßigkeit gab: In der zweiten Oktoberhälfte wird es keine neuen Newsletter geben, vielleicht in einer Woche noch einmal, Anfang November dann wieder.
Dann wird die US-Wahl entweder kurz bevorstehen oder schon hinter uns liegen. Es wird dann umso mehr zu durchdenken (und schlimmstenfalls: zu verarbeiten) geben.
Unter all den erschütternden und haarsträubenden Nachrichten aus den USA in den vergangenen Wochen, von Hurrikan-Verschwörungstheorien über Musk, der Trump jetzt auch auf der Bühne unterstützt, bis zu Trumps Aussage, es brauche mal einen Tag der Gewalt durch die Sicherheitsbehörden, um Kriminelle dauerhaft einzuschüchtern. Man denkt an eine Nacht der langen Messer.
Besonders hängen geblieben ist bei mir aber die Meldung, dass Trump während der Hochphase der Corona-Pandemie einige der seinerzeit noch nicht im Überfluss vorhandenen Tests heimlich an Wladimir Putin für dessen persönlichen Gebrauch geschickt hat.
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Eine Geschichte, die eine politische Karriere erledigen sollte, aber völlig untergeht. Es ist ein Muster, das man an Trump besonders gut studieren kann, das aber auch sonst gilt: das Verschwinden der Skandale im Schutz der Masse.
Auf gewisse Art verhalten sich politische Grenzüberschreitungen wie Fische im Schwarm oder Zebras in der Herde. Je mehr es von ihnen gibt, desto weniger ist ein Exemplar sichtbar. Alle Grenzen verschwimmen. Den Gegnern fällt es schwer, sich auf eine Sache zu konzentrieren.
Integren Politiker*innen hängen selbst kleine Verfehlungen oft jahrelang an, weil sie allen sofort in Erinnerung kommen. Der einzelne Fisch ist ein leichtes Opfer für den Seehund, das einzelne Zebra für die Löwin, der einzelne Skandal für die Öffentlichkeit. Sicherheit bietet nur die Masse.
Seehunde und Löwinnen versuchen deshalb gezielt, Fische und Zebras herauszulösen aus der Masse. Sie aus dem Schutz der Menge zu holen, damit sie sich fokussieren können.
Es wundert mich, dass das im Umgang mit extremen politischen Kräften so selten geschieht.
Herzlich
Jonas Schaible