Der Kampf um die Demokratie wird lang und zäh
Keine hektische Panik nach den Landtagswahlen, aber erst recht keine Illusionen. Wie Berichterstattung die Wahrnehmung von Migration als Problem beeinflusst. Tucholsky erklärt die Berliner.
Die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen sind vorbei und ich beobachte eine merkwürdige Gleichzeitigkeit. Einerseits ist da Erschütterung, Reden von einer Zäsur, Angst vor dem, was kommt. Andererseits geht man zur Tagesordnung über, im Alltag, bei der Arbeit.
Ich finde das irritierend, aber es ist wahrscheinlich auch der Zustand für die nächsten Jahre. Wir dürfen nicht wegdämmern, aber wir können auch nicht immerzu wachsam sein. Denn was da auf uns zukommt, wird im besten Fall ein sehr langer, sehr zäher Kampf um die liberale Gesellschaft, die Demokratie.
In größerer Ausführlichkeit habe ich das am Wahlsonntag in einem Essay beschrieben: Demokratien sterben nicht, sie siechen dahin. Der Text steht hinter einer Paywall (weiter unten ein paar Geschenklinks), aber weil er mir wirklich wichtig ist, will ich die zentralen Gedanken hier gerafft wiedergeben.
1. Die extreme Rechte verschwindet nicht
»Die autoritäre extreme Rechte ist gekommen, um zu bleiben. Es gab mal Fälle, Anfang der Nullerjahre in Rumänien etwa, die nach Erfolgen wieder nahezu verschwunden sind. Aber das ist lange her. (...)
Es gibt eine Nachfrage nach solchen Parteien. (Sie trifft) auf Gesellschaften, in denen die radikale Rechte Strukturen ausgebildet hat. Sie hat Geld, Apparate, ein Medienökosystem, ein Vorfeld. Sie ist international vernetzt, sie weiß, wie sie Einfluss nehmen kann. Sie hat Debatten und Normen schon verändert.
Diejenigen, die sie wählen, gewöhnen sich daran, sie zu wählen. Viele von ihnen haben längst begonnen, sich mit diesen Parteien zu identifizieren und dabei auch das eigene Weltbild dem Programm anzugleichen.«
Niemand sollte darauf hoffen, dass sich die Sache in naher Zukunft erledigt, dass wir zurückkehren zu einem Parteiensystem, in dem es nur eindeutig demokratische Parteien gibt. Oder zu einer Öffentlichkeit, in denen Autoritäre keine Rolle spielen.
2. Die extreme Rechte ist keine unbesiegbare Naturgewalt
»Sie ist keine übernatürliche Kraft, die zu besiegen einfachen Sterblichen unmöglich ist. So wird ja manchmal über sie geredet. In Deutschland gibt es dafür die Formel: »Das hilft nur der AfD!«
Die implizite Annahme dahinter ist immer: Die Mehrheit ist empfänglich für sie.
Es ist gesund, diesen Gedanken nicht auszuschließen. Es gilt jener Satz des Holocaustüberlebenden Primo Levi, der so frei von Illusionen, so wahnwitzig präzise und hellsichtig ist wie kaum ein anderer Satz jemals, und dabei sogar noch auf eine Art poetisch: »Es ist geschehen, folglich kann es wieder geschehen.«
Das bedeutet aber gerade nicht, davon auszugehen, dass jede Form von Politik automatisch immer zu rechtsautoritärer Mobilisierung führt.«
Immer noch schließt eine Mehrheit aus, die AfD je zu wählen. Der Weg zur Macht führt nur über Koalitionen. Es kommt auf die anderen Parteien an.
3. Demokratien sind gewachsen – und damit widerstandsfähig
Ja, man kann Demokratie zerstören. In den USA steht alles auf der Kippe. Aber es ist auch nicht trivial, zu zerstören, was so lange gewachsen ist.
(BIld)
»Man sieht das bei einem nüchternen Blick auf die Wahlergebnisse extrem rechter Parteien in Europa in den Zwanzigern und Dreißigern des 20. Jahrhunderts und heute. Wahrscheinlich schneiden sie heutzutage flächendeckend eher stärker ab. Trotzdem kippte damals nach wenigen Jahren ein großer Teil des Kontinents auf die ein oder andere Art in eine rechtsautoritäre Diktatur. Heute hat sich in Europa mit Ungarn bisher erst ein autoritäres System einigermaßen konsolidiert.«
4. Das Glück der frühen Geburt
Wir haben heute keine Massen von jungen Männern, die vom Krieg traumatisiert sind und für die Gewalt Alltag ist. Wir sind eine alte Gesellschaft. In dem Fall ist das gut.
»Senioren neigen weniger zum Straßenkampf, zeigt die Erfahrung der Jahrhunderte. Greise drängen weniger auf Taten statt Worte, jedenfalls wenn es um eigene Taten geht.
(...)
Das macht eine gewaltvolle Zuspitzung der Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autoritarismus unwahrscheinlicher, ein lang andauerndes Ringen wahrscheinlicher.«
5. Der Autoritarismus schafft sich seinen Nährboden selbst
»Der rechte Autoritarismus lebt heute von Voraussetzungen, die er selbst schaffen kann. Man könnte auch sagen: Er kann die Demokratie an seinen eigenen Haaren in den Sumpf ziehen.«
Wenn er Klimaschutz verhindert (und vom Kulturkampf schon kurzfristig profitiert), hilft ihm das langfristig, weil die Klimakrisen Demokratien gefährdet.
Wenn er gegen Migration hetzt und Regionen deshalb für Zuwanderung unattraktiv werden, schrumpfen sie, was wieder Unzufriedenheit schürt.
»Eine aktuelle Studie der Politik- und Wirtschaftswissenschaftler Eleonora Alabrese, Jacob Edenhofer, Thiemo Fetzer und Shizhuo Wang, hat schließlich gezeigt, dass in Großbritannien extrem rechte Parteien heute dort besonders stark sind, wo der Brexit der Wirtschaft besonders geschadet hat – jener Brexit, für den sich die extreme Rechte besonders eingesetzt hat.«
6. Entzaubern ist ein Mythos
Weil das so ist, kann man nicht darauf hoffen, dass sich die autoritäre extreme Rechte an der Macht entzaubert. Außerdem hat in einer Koalitionsregierung auch der Partner ein Interesse daran, dass nicht alles den Bach runtergeht.
»Die Entzauberung ist eine Idee, die auf die schnelle Lösung hofft, auf einen kurzen Kampf.«
Den wird es aber nicht geben. Wir haben lange Jahre vor uns.
7. Anderer Blick auf die Brandmauer
Damit richtet sich der Blick umso mehr auf die Brandmauer.
»Die relevante Frage lautet folglich nicht: Wie kriegt man die extreme Rechte durch Politik eilig klein? Darauf gibt es nämlich keine Antwort, jedenfalls kurzfristig.
Die relevante Frage lautet vielmehr: Wie verhindert man am effektivsten, dass die autoritäre extreme Rechte Macht ausübt, wenn man annehmen muss, dass man es auf absehbare Zeit mit ihr zu tun hat? Wie verhindert man bestmöglich, dass sie Einfluss nimmt und so die Voraussetzungen für ihren eigenen Erfolg schaffen kann?«
Die Brandmauer war nie da, um das Feuer zu löschen, sondern um ein Übergreifen auf das ganze Haus zu verhindern.
8. Was folgt daraus?
Wir brauchen einen Plan, keine Panik. Genaue Analyse der Lage. Keine falsche Hoffnung auf die eine Kraftanstrengung, die uns rettet. Aber auch keine übertriebene Angst vor dem einen Moment, der uns ins Unheil stürzt (auch wenn eine erneute Trump-Wahl so ein Katalysator sein könnte). Die führt nur wieder zu Kopflosigkeit.
Das alles wird noch sehr, sehr lange nicht vorbei sein. Machen wir uns keine Illusionen. Nur so bleiben wir bei Verstand und bei Kräften.
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Wenn Sie den Text in Gänze lesen wollen und ein Spiegel-Abo haben, finden Sie ihn hier.
Wenn Sie, was selbstverständlich zu geißeln ist, keines haben sollten, gibt es ihn hier, hier und hier als Geschenklink. Jeder kann genau zehnmal geöffnet werden. Nur solange der Vorrat reicht.
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Die Wahlen haben auch wieder eine Migrationsdebatte ausgelöst. Auch unter Konservativen beteuern viele, dass sie das nicht wollen; die Einsicht, dass vor allem die extreme Rechte profitiert, wenn Migration im Fokus steht, ist kaum noch kontrovers.
Es gibt allerdings unterschiedliche Einschätzungen, ob Migration deshalb so im Fokus steht, weil Parteien entscheiden, sie zum Thema zu machen, weil Medien das auch entscheiden und weil sie über Politik berichten. Weil sie aus Terroranschlägen eine Migrationsdebatte machen. Oder ob es einfach an der Lage im Land liegt, die oft als dramatisch beschrieben wird, also an der Wirklichkeit.
Zweifellos haben viele Menschen das Gefühl, dass Einwanderung ein riesiges Problem ist. Im ganz aktuellen Politbarometer sagen 45 Prozent, es sei eines der zwei größten Probleme. Die Frage ist, ob das ein Debatteneffekt ist oder ein Einwanderungseffekt.
Ich glaube, dass es weder das eine, noch das andere in Reinform ist, wie meistens in der Gesellschaft. Ich neige aber dazu, einen starken Debatteneffekt zu vermuten. Aber ich wollte mal schauen, ob man dafür Anhaltspunkte findet.
Deshalb habe ich mir aus dem Archiv herausgesucht, wie viele Texte SZ und FAZ pro Tag veröffentlicht haben, in denen »Migration« vorkommt. Dazu die Umfrage des Politbarometer: Wie viele Menschen nennen »Ausländer/Integration/Flüchtlinge« als eines der zwei größten Probleme? Und dann noch die Zahl der Asyl-Erstanträge daneben gelegt.
Die Ergebnisse hatte ich im Frühjahr schon mal auf Bluesky beschrieben, jetzt habe ich das bis heute aktualisiert.
Was man hier sieht: Die Problemwahrnehmung folgt sehr eng der Berichterstattung in den 14 Tagen zuvor (für die 7 Tage vorher sieht es sehr, sehr ähnlich aus).
Für alle, die etwas mit Sozialwissenschaften zu tun haben, hier eine Regressionstabelle. Man sieht dass die Berichterstattung einen starken Effekt hat, mehr als 70 Prozent der Varianz erklärt (2023 noch mehr, 2024 immer noch mehr als die Hälfte). Das ist extrem viel. Die Zahl der Asylanträge erklärt wenig.
Man könnte das alles mit viel besseren Daten noch viel besser und wasserdichter analysieren, aber ich nehme es zumindest als starkes Indiz, dass die Problemwahrnehmung etwas mit der öffentlichen Debatte zu tun haben dürfte.
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Vorhin bin ich über diesen Text über diese wirklich bemerkenswerte Studie gestolpert. Sie untersucht, welche Folgen es hatte, dass ein Pilz im Jahr 2006 in Teilen Großbritanniens massenhaft Fledermäuse dahingerafft hat. Der Befund: Dort, wo das so war, stieg die Kindersterblichkeit deutlich an. Bis zu 1300 Kinder könnten deshalb tot sein, die andernfalls noch am Leben wäre.
Der Grund waren laut Studie Pestizide, die Bauern vermehrt eingesetzt haben, weil die Fledermäuse nicht mehr so viele Schadinsekten weggefressen haben.
Man sieht einmal mehr: Klima, Artenvielfalt, Ökosysteme, Landwirtschaft und menschliches Wohlergehen sind auf engste verbunden.
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Zum Schluss noch das: Ich schmökere mich gerade durch Kurt Tucholskys Texte, als Beschreibungen der Zwanziger- und Dreißigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Vieles daran ist faszinierend, zuvorderst natürlich, was für ein guter Schreiber er war.
Was mir in seinen vielen satirischen Texten aufgefallen ist: Es tauchen immer wieder bestimmte Typen auf, die er spöttisch vorbeiparadieren lässt (nicht selten sind es Militärs), die für die Gesellschaft damals stehen, von denen er annehmen muss, dass sie allen sofort einleuchten. Etwa hier, wenn er schreibt, der Simplicissimus habe sich einst »an all die deutschen Heiligtümer zu rühren gewagt: an den prügelnden Unteroffizier, an den stockfleckigen Bürokraten, an den Rohrstockpauker und an das Straßenmädchen, an den fettherzigen Unternehmer und den näselnden Offizier.«
Vielleicht irre ich, aber mir scheint, dass solche Klischees heute weniger verbreitet sind, in den Massenmedien jedenfalls. Da gibt es zwar immer noch Karikaturen, den Hipster, der aber alles und nichts ist, die Latte-Macchiato-Mutter, den Lastenradfahrer, die faule Generation Z, aber so richtig konturiert sind die alle nicht, sie verschwimmen irgendwie auch. Und vor allem scheinen sie mir eher Randgestalten zu sein, keine Prototypen.
Kann es sein, dass wir Gesellschaften heute eher an ihren (urbanen) Rändern typisieren, nicht mehr in ihrem Kern?
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Das ist allerdings eine Ausnahme. Meisten finde ich eher kaum zu glauben, wie gegenwärtig Tucholsky in seinen Alltagsbeschreibungen klingt.
Wenn er Berliner so beschreibt, zum Beispiel, im Jahr 1919:
»Der Berliner hat keine Zeit. (…) Er hat immer etwas vor, er telefoniert und verabredet sich, kommt abgehetzt zu einer Verabredung und etwas zu spät – und hat sehr viel zu tun. (…) Manchmal sieht man Berlinerinnen auf ihren Balkons sitzen. Die sind an die steinernen Schachteln geklebt, die sie hier Häuser nennen, und da sitzen Berlinerinnen und haben Pause.«
Oder wenn er darüber nachdenkt, welche Art Altern seine ganzen Freunde werden, die gerade Kinder bekommen haben: »Mit dem Fortschritt ist es ja so eine Sache, aber es wäre den kleinen Petern, Tobiassen und Haralds zu wünschen, dass es ihnen besser ergehen möchte als ihren immerhin ziemlich geplagten Eltern. (…) Dass diese junge Generation ohne gewisse törichte Zwangsvorstellungen aufwachsen wird – das ist einmal sicher. Dass sie neue akquiriert, desgleichen.«
Man müsste eigentlich nur die Namen tauschen und könnte das heute unverändert drucken. Man kann nur hoffen, dass es heute wahrer ist als im Jahr 1927.
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Falls Sie Lust bekommen haben auf Tucholsky und noch Urlaub vor sich, lesen Sie doch Schloss Gripsholm. Das ist als leichte Sommerunterhaltung angelegt und ist genau das.
Wenn Sie anders entspannen, dann eben anders. Hauptsache bei Kräften bleiben und nicht den Verstand verlieren.
Herzlich
Jonas Schaible
Jetzt auch noch mit Buchtipps und flockigem Abgang. Herrlich!
Die Statistik vorher sehr interessant. Also die Kombi stimmt.