Die Brandmauer ist nur noch Ruine, Propaganda wirkt und Macht führt in die Irre
In den Kommunen werden AfD-Vertreter gewählt und die CDU nimmt es hin. In Großbritannien führen Falschmeldungen zu Krawallen. In den USA steigt jemand auf, den kaum einer kannte.
Immer und immer wieder habe ich in den vergangenen Wochen eine Nachricht dieser Art gelesen: Im Kreistag Vorpommern-Rügen wurde ein AfD-Kandidat zum Stellvertreter des Kreistagspräsidenten gewählt. Das lässt sich eigentlich nur so erklären, dass die CDU ihn mitgewählt hat. Nur beweisen lässt sich das nicht, weil die Wahlen geheim stattfanden.
Deshalb haben KollegInnen und ich Fälle zusammengetragen, die Mehrheitsverhältnisse in den jeweiligen Kommunen analysiert, mit Landes- und Lokalpolitikern gesprochen. Und am Ende die CDU in den Ländern und in Berlin gefragt, wie sie das jetzt eigentlich hält mit dem Verbot der Zusammenarbeit.
Das Ergebnis war sehr eindeutig.
Es kann ja sein, dass das nicht überall so war, dass nicht überall, wo es die naheliegende Erklärung ist, auch stimmt. Aber um das sagen zu können, müsste man dem nachgehen. Man müsste versuchen, Aufklärung zu betreiben, um im Zweifel Konsequenzen ziehen zu können, statt sich hinter der geheimen Wahl zu verstecken.
Doch offensichtlich wollen weder die Bundespartei noch die Landesverbände in Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt oder Brandenburg die Verdachtsfälle auch nur untersuchen – zum Beispiel, um herauszufinden, ob es im Vorfeld feste Absprachen mit der AfD gegeben hat.
Es gibt nach wie vor viele Kommunen, in denen die CDU die AfD auf Distanz hält. Aber die Brandmauer gibt es nicht mehr. Sie ist bestenfalls noch ein Rest, verwittert, bröckelnd, eher eine Ruine.
Aktuell gilt das nur in den Kommunen. Aber wenn sich die Deutung des Anti-Zusammenarbeits-Parteitagsbeschlusses durchsetzt, die manche Landesverbände auf Anfrage verbreiten, dann bald womöglich auch auf anderen Ebenen. Dann wäre ein Kemmerich-Szenario nicht problematisch. Oder eine Minderheitsregierung, die ab und an auch mit der AfD ihre Mehrheit holt.
Die ganze Geschichte habe ich zusammen mit KollegInnen im Spiegel aufgeschrieben (Link für Abonnenten / hier ein Geschenklink, der auch ohne Abo geöffnet werden kann – aber nur 10 Mal insgesamt)
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In Großbritannien randalieren seit Tagen Menschen, aufgewiegelt von extrem rechten Aktivisten. Der Anlass: eine Falschmeldung nach dem Mord an drei Mädchen. Erfundene Informationen über den Täter wurden in Umlauf gebracht, er wurde fälschlich als muslimischer Asylbewerber beschrieben.
Seitdem ziehen Mobs durch britische Städte, angetrieben durch bekannte Rechtsextreme. Sie zerstören, schüchtern ein, liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei.
Für alle, die sich darüber Gedanken machen, unter welchen Bedingungen so etwas möglich ist, möchte ich gern einen Text von mir empfehlen, den ich vor einigen Wochen geschrieben habe.
Der Essay steht nicht hinter der Paywall, er ist frei für alle zu lesen: »Wir leben in einer neuen Ära der Propaganda«
Es geht darin um die neue Allgegenwart von Propaganda, die mehr ist als ein paar Falschinformationen. Die versucht, eine neue Wirklichkeit zu erschaffen und damit eine neue Gesellschaft. Eine autoritäre Gesellschaft. Und die Politik und Medien vor Probleme stellt, mit denen sie nicht umzugehen wissen.
Was passiert, wenn sie wirkt, sehen wir gerade in Großbritannien.
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Das waren jetzt zwei Empfehlungen für eigene Texte. Die soll es hier auch immer wieder geben, aber eher als Ergänzung. Nur geht es in beiden Fällen um die Substanz dieser Republik. Mich treibt das um. Deshalb waren mir die Hinweise wichtig.
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Dann war noch das hier: Kamala Harris hat sich einen Vize-Präsidentschaftskandidaten ausgesucht. Tim Walz heißt der Mann, ich will nicht all die Geschichten darüber nacherzählen, wieso er als Lehrer und Ex-Nationalgardist und Fasanenjäger und Autobastler und als Erfinder des »Ihr seid weird!«-Angriffs auf die Republikaner (dazu ein andermal mehr) aktuell so gut ankommt. Das steht überall.
Mir fiel in diesen Tagen wieder auf, was ich mit am faszinierendsten in der Politik finde, weil es so schwer zu greifen ist: den Aufstieg von Menschen in Machtpositionen.
Und zwar nicht wegen des Wegs dorthin, wegen all der Bündnisse und möglicherweise Intrigen. Die sind manchmal auch interessant, aber interessanter ist, wie stark sich dann Wahrnehmungen verändern.
Eben noch war Joe Biden der Präsidentschaftskandidat, und er war es auch deshalb ohne Debatte, weil man sich einig war, dass alle anderen Kandidaten zu schwach wären. Inklusive Kamala Harris.
Eben noch kannte kaum jemand in den USA Tim Walz, wenn überhaupt über Gouverneure aus den Bundesstaaten. Dann gab er zwei Interviews, die auffielen, nun wird er als Wunderwaffe gegen Trump gefeiert.
Ich erinnere mich gut an den Moment, an dem Ralph Brinkhaus bei der Wahl zum Chef der Unionsfraktion Volker Kauder herausforderte und gewann. Kauder war Merkels Vertrauter gewesen, Brinkhaus ein nicht übermäßig auffallender Haushaltspolitiker und Fraktionsvize.
Offensichtlich war er überzeugt, dass er gewinnen kann, und es gab auch andere, die das für möglich gehalten haben. Aber es war doch ein kleiner Schock. Für seine Unterstützer, noch mehr aber für das Kauder-Lager.
Auf einmal war er Fraktionschef der Partei der Kanzlerin. Ein mächtiger Mann. Zuerst war das ungewohnt. Dann war es normal. Er trat so auf und wurde so behandelt.
Es gehört zu einer Art Standardlamento der Politik, zu beklagen, dass es Parteien an Talenten fehle, an frischen Gesichtern. Weit und breit niemand in Sicht, der nachfolgen könne, wenn die aktuelle Führungsriege ausscheidet.
Manchmal stimmt das sicher. In allen Berufen gibt es Menschen, die nicht so richtig gut sind in dem, was sie tun. Politik dürfte da keine Ausnahme sein.
Aber oft steckt hinter der Klage schlicht fehlende Vorstellungskraft. Der Fehlschluss, dass nicht zur Macht taugt, wer sie nicht hat. Umgekehrt: dass besonders begabt ist, wer gerade etwas zu sagen hat.
Es gibt Politiker, von denen allgemein erwartet wird, dass sie mal richtig was werden. Markus Söder war so einer, als er noch Generalsekretär der CSU war. Robert Habeck, als Landesminister in Schleswig-Holstein. Konstantin Kuhle von der FDP, derzeit Fraktionsvize, ist wahrscheinlich so jemand. Sie haben besonderes Talent oder besonderen Ehrgeiz. Meist beides.
Aber es gibt auch Politiker, von denen es lange niemand so richtig erwartet, und die dann doch in ungeahnte Höhen aufsteigen. Siehe: Tim Walz.
Aus beiden Gruppen gibt es schließlich diejenigen, bei denen es funktioniert, die sich der Aufgabe gewachsen zeigen, die vielleicht sogar über sie und sich hinauswachsen. Und andere, die scheitern, aus welchen Gründen auch immer.
Niemand kann mit Gewissheit vorher sagen, wer zu welcher Gruppe gehört. Man weiß es erst immer hinterher.
Darin liegt eine beruhigende Erkenntnis: Man muss nicht verzagen, wenn es zum demokratischen Machtwechsel kommt. Auch jene, die man sich nicht in der Rolle vorstellen kann, können erfolgreiche Ministerpräsidenten werden, Minister oder Kanzler. Es gibt immer eine Zeit danach.
Darin liegt aber auch eine beunruhigende Erkenntnis, ein Aufruf zur Wachsamkeit: Dass man jemandem nicht zutraut, wirkliche Macht zu erlangen, heißt nicht, dass er oder sie es nicht tut. Dass jemand lächerlich ist, unbeholfen, grobschlächtig oder weird, heißt nicht, dass er nicht irgendwann die Macht ergreifen kann.
Es gibt nicht immer nur eine demokratische Zeit danach.