Die Politik einer Umarmung
Was der Austausch von Gefangenen mit Russland über die Demokratie aussagt (und was nicht)
Was für ein Moment das war: Der Journalist Evan Gershkovich steigt aus dem Flieger auf ein Rollfeld in der Nähe von Washington. Nach mehr als 500 Tagen in politischer Geiselhaft von Wladimir Putin ist er frei.
Kamala Harris kommt auf ihn zu, sie umarmen sich. Joe Biden tritt heran. Gershkovich gibt ihm erst die Hand. Dann umarmt er ihn, den US-Präsidenten, und es sieht so aus, als gehe die Bewegung von Gershkovich aus.
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Im Gegenzug kommen russische Agenten frei. Darunter Wadim Krassikow, verurteilt für den Mord am Georgier Selimchan Changoschwili in Berlin. Er soll Putin besonders wichtig gewesen sein.
Die kluge Zeit-Journalistin Alice Bota hat auf Twitter dazu geschrieben: »Biden wollte einen Journalist zurück, Putin einen Mörder – das fasst das Putinsche Regime gut zusammen.«
In der Tat, das tut es.
Womit sich allerdings umgekehrt die interessante Frage stellt: Fasst es eigentlich auch die USA gut zusammen? Den Westen? Die Demokratie?
Und wenn ja, was ist es, was man da sieht?
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Es ist schließlich nicht so, als würden Journalisten und freie Medien in Demokratien immer geschätzt und gehegt und bestens behandelt. Daphne Caruana Galizia ist tot, Ján Kuciak auch. Medien werden geschmäht, unter Druck gesetzt, umgestaltet.
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Es ist auch nicht so, als würden Menschenrechte, freie Rede und freier politischer Wettbewerb stets verteidigt.
Die Geschichte der Demokratie ist eine der Demokratisierung der Demokratie, der Expansion der Freiheit gegen die Gewohnheit. Was auch heißt: Man hatte sich an ziemlich viel Ungleichheit, Ausschluss, Ausbeutung, Unterdrückung, Gewalt und Verlogenheit gewöhnt. Man ist es noch immer. Und der Kampf gegen die eigenen Gewohnheiten wird von der Demokratie keineswegs immer gewonnen.
In Demokratien wurden Frauen als Menschen zweiter Klasse behandelt und Sklaven noch nicht einmal so. In Demokratien wurden Homosexuelle ins Gefängnis gesteckt. Demokratien kolonisierten große Teile der Welt, gewaltsam und brutal, sie führten Kriege und heizten sie an. Demokratien unterstützten Diktatoren, putschende Militärs, Mordanschläge auf gewählte Politiker. Die USA waren außenpolitisch phasenweise offen antidemokratisch.
Man hat wirklich keinen Grund, mit naiver Verliebtheit oder der Erwartung von reiner Menschenliebe auf Demokratien zu schauen, historisch und heute.
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Es ist außerdem nicht so, als werfe der Gefangenenaustausch keine Fragen auf.
Wir wissen nicht, wer womöglich künftig darunter leidet. Weil ein Killer auf freien Fuß kommt. Oder weil Putin nun weiß oder auch nur glaubt, dass der Westen erpressbar ist, weshalb die Wahrscheinlichkeit steigen könnte, dass er erst recht politische Gefangene macht.
Wir wissen nicht, welche Folgen es hat, wenn ein Rechtsstaat zu oft entscheidet, dass ein Straftäter seine Strafe nicht absitzen muss, weil es ein höheres Gut gibt.
Die Risiken sind real. Der Preis für die Freilassung von Gershkovich und den anderen ist hoch. Wie hoch er ist, ob er womöglich zu hoch war, lässt sich jetzt noch nicht sagen. Vielleicht wird man es nie sagen können.
Es hätte eben auch Folgen gehabt, nicht auszutauschen. Es hat immer alles Folgen, unabsehbare, oft schreckliche.
Jemand musste eine Entscheidung treffen, unter Abwägung der Vorteile und der Nachteile. Die Dinge sind kompliziert, wie fast immer.
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Es ist noch nicht einmal so, als wäre es in diesem Moment um nichts als die Befreiung der Menschen gegangen.
Natürlich ist es kein Zufall, dass es Vizepräsidentin Harris zusammen mit Präsident Biden am Flughafen war. Sie, die Präsidentschaftskandidatin der Demokraten wird. Neben Biden, der abtritt, Platz macht für sie.
Auch das ist Politik. Man bekommt den Wahlkampf nicht aus der Demokratie, so sehr man es auch versucht.
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Was also sieht man in dieser Szene am Flughafen und dem, was sie abbildet?
Es gibt auch Videos davon, wie Wladimir Putin die Männer empfängt, die er zurückholen wollte. Für seine Verhältnisse verhält er sich sogar vergleichsweise nahbar, mit Umarmung bei gleichzeitigem Handschlag, der Andeutung eines Lächelns.
Rollbahn, Treppe, Soldaten, Lichter, Handschlag: Es sind ähnliche Bilder und doch sehr andere. Da die kurze Umarmung, der Schulterklopfer, der Präsident, nach dem sich alles ausrichtet, ein zackiger Abmarsch mit Blumenstrauß in Kinderhand.
Dort Lachen. Zugewandtheit. Erleichterung. Familien, die Selfies machen und einfach herumstehen. Ein bisschen ziellos, wie Menschen eben sind, wenn sie nicht so genau wissen, was sie mit sich anfangen sollen, wenn sie nicht wissen können, was sie auf einmal mit sich anfangen sollen. Wie sie sich verhalten sollen, wenn ein Moment vorbei ist, den man noch nicht gehen lassen will.
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Es liegt eine Kindness in diesen Szenen, eine Milde, Güte, Menschlichkeit, die politisch ist, nicht nur, weil dieser Moment politisch ist, sondern weil es politisch ist, ob es sie geben darf und wo.
Es verrät etwas über ein politisches System, wenn das, was es inszeniert, Glück ist, nicht Triumph. Herzlichkeit, nicht Coolness. Verbundenheit, nicht Unterwürfigkeit.
Diese Szene verrät nicht, dass dieses System durch und durch so ist. Sie verrät nicht, dass dieses System frei ist von Widersprüchen, von Fehlern, auch von Härte, Kälte und Grausamkeit. Sie verrät nicht, dass es immer nur um Menschlichkeit geht, um die zu Unrecht Bestraften, oder darum, dass allen Gerechtigkeit widerfährt.
Nichts davon ist wahr.
Was diese Szene verrät, ist nur, dass es in diesem System trotzdem von Bedeutung ist, dass Menschen sich umeinander kümmern, miteinander fühlen und füreinander sorgen. Dass es möglich ist, dass sie sich berühren lassen, sichtbar.
Gershkovich hat kurzerhand den Mann geherzt, der ihm geholfen hat. Dann hat er seine Mutter in die Luft gehoben und Joe Biden hat gelacht.