Die Welt ist anders, als wir dachten. Zum Glück.
Wie man bei Verstand bleibt, wenn man von Boshaftigkeit, Lüge und Provokation umgeben ist.
Wussten Sie, dass Pflanzen offenbar in der Lage sind, mit ihren Wurzeln Wasser zu hören?
Wussten Sie, dass Menschen in der Lage sind, sich über Echolokation zu orientieren, wie Fledermäuse oder Delfine?
Wussten Sie, dass es Wespenarten gibt, die seit Hunderttausenden Jahren als getrennte Arten existieren und keine lebensfähigen Nachkommen zeugen können – bis man ihnen Antibiotika gibt?
(Mehr dazu am Ende des Textes.)
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Ich wusste all das nicht, bis ich es in drei Sachbüchern gelesen habe, die ich ohne Einschränkung fantastisch finde: “Die erstaunlichen Sinne der Tiere”, über die Sinnenwahrnehmung von Tieren, und “Winzige Gefährten”, über Mikroorganismen, beide von Ed Yong. Und “The Light Eaters”, über Fähigkeiten von Pflanzen und die Frage, ob sie womöglich eine Art von Bewusstsein haben, von Zoë Schlanger.
Wenn man diese Bücher liest, lernt man auch neue Fakten. Vor allem aber lernt man, dass so vieles, was man über die Welt zu wissen glaubte, falsch ist.
Weil es nicht nur faszinierend ist und ein partytauglicher Fun Fact (also, je nach Party), dass Oktopusse kein zentrales Hirn haben, sondern eine Art unabhängiges Nervensystem in jedem Arm und eingeschränkt sogar in jedem Saugnapf.
Es bedeutet auch, dass eine bestimmte Vorstellung von Intelligenz, die in einem Gehirn ihre materielle Grundlage hat, vermutlich falsch ist.
Weil es nicht nur faszinierend ist, dass bestimmte Pflanzen ihre Wurzeln und Blätter nicht mehr gewissermaßen rücksichtslos wuchern lassen, sobald sie von eng verwandten Pflanzen umgeben sind, um ihnen nicht Licht und Nährstoffe streitig zu machen.
Es bedeutet, dass Pflanzen irgendwie erkennen, wer ist, was wir bei Tieren wohl Familie nennen würden, und dass sie dann ihr, nun: Verhalten ändern. Wer hätte ihnen das zugetraut?
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Es gibt in meinen Augen keine besseren Sachbücher als solche, die das eigene Grundverständnis der Welt einmal komplett auf links drehen.
Denn es ist ja so: Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist sehr viel von dem, was wir über die Welt zu wissen glauben, falsch. Oder jedenfalls nicht ganz korrekt, nicht vollständig. Man muss nicht in die Tiefen von Wissenschaftsphilosophie und Erkenntnistheorie hinabsteigen, um zu ahnen: Wenn die Menschheit bis jetzt permanent neues über die Welt in Erfahrung gebracht hat, dann wird sie das wahrscheinlich auch in Zukunft tun.
Man muss also erwarten, ab und an von Dingen zu hören, die ganz anders sind, als man dachte. Wenn es so ist, weiß man, dass die Dinge ihren Gang gehen. Dass Wissenschaft funktioniert; dass menschliche Neugier noch Raum hat, sich zu entfalten; dass es Gesellschaften gibt, die frei genug, so etwas zuzulassen.
Würde man nicht mehr davon hören, müsste man sich Sorgen machen.
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Ich empfand diese Bücher aber noch aus einem anderen Grund als besonders befreiend und beglückend, als jemand, der den Großteil seiner wachen Zeit damit verbringt, Gesellschaft zu beobachten und zu beschreiben. Und zu beobachten und zu beschreiben, wie andere Gesellschaft beobachten und beschreiben.
Man begegnet dabei unweigerlich Thesen, die dutzendfach widerlegt sind und nie gut belegt waren, aber trotzdem ständig wiederkehren. Manche Lügen und Irrtümer und Missverständnisse werden zu regelrechten Weggefährten des eigenen Lebens.
Man stellt fest, dass Politik eben Politik ist, also etwas, bei dem es sehr stark um Macht geht, gar nicht immer nur um gute Argumente. Eigentlich fast nie um gute Argumente und schon gar nicht um Widerspruchsfreiheit oder innere Logik.
Man kann verzweifeln darüber, dass sich Dummheit und Dreistigkeit und besonders Schamlosigkeit so oft durchsetzen (aber auch nicht immer).
Man begreift, dass Gesellschaften lernfähig sind, aber auch manchmal bemerkenswert stur. Dass sie auch in der dritten Welle einer Pandemie noch die Fehler der ersten wiederholen oder die Klimakrise umso mehr ignorieren, je sichtbarer die Folgen werden.
Man kann, nein, man muss auch in Sorge geraten wegen der Erfolge radikal rechter, autoritärer Politik, wegen der Möglichkeit, dass die liberale Demokratie, die offene Gesellschaft in der Defensive ist.
In letzter Zeit, ich habe darüber ausführlich geschrieben, ist man dabei fast ständig umgeben von Propaganda, also dem systematischen Versuch, eine neue, autoritäre Sicht auf die Welt zu etablieren, durch ständige Wiederholung.
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Man kann dabei den Verstand verlieren. Oder, was vielleicht noch schlimmer wäre, man kann darüber leicht zynisch werden und bitter.
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Ich versuche deshalb, aktiv daran zu arbeiten, mir die Neugier zu erhalten, die Irritierbarkeit, Demut und Empathie.
Menschen sind lernfähig. Gesellschaften sind beweglich. Die Zukunft steht nicht schon fest, auch nicht in der Klimakrise. Menschen sind klüger und interessanter und komplexer, als es scheint, wenn man vor allem liest, was jene schreiben, die Provokation, Unirritierbarkeit und Boshaftigkeit zu ihrem Geschäftsmodell gemacht haben oder zu ihrem politischen Programm.
Dabei helfen Kunst, Musik, Lyrik, Literatur, dabei hilft der Blick ins Ausland und die Wissenschaft. (Es hilft, übrigens, auch sehr, mit Menschen aus demokratischen Parteien zu sprechen, die nicht jeden Anlass mit dem grellsten Zitat begehen).
Aber wahrscheinlich am besten hilft, ist zu sehen, dass alles ganz anders ist, als ich dachte. Nichts ist besser als ein Buch, bei dem ich alle paar Sätze ausrufen möchte: Wahnsinn, das ist ja verrückt!
Und vielleicht, hoffentlich, hilft mir in Zukunft auch dieser Newsletter dabei. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir dabei Gesellschaft leisten wollen. Es wäre mir eine Ehre.
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Und, wie versprochen, hier noch ein paar Sätze zu den Beispielen vom Anfang:
Man hat in Experimenten beobachten können, in welche Richtung Pflanzen ihre Wurzeln schicken, indem man sie durch ein Plastikrohr hat wachsen lassen, das eine Art umgedrehtes Ypsilon ist. Die Pflanze konnte also eher nach rechts, eher nach links oder gleichermaßen wurzeln. Wenn eine Seite nass war, die andere trocken, bewegten sich die Wurzeln vor allem in Richtung Wasser. Das ist einerseits einleuchtend, andererseits an sich verrückt genug, weil es bedeutet, dass die Pflanze in irgendeiner Form erkennen muss, wo Wasser ist. Vermutlich: aufgrund chemischer Signale.
Das Gleiche geschah aber, wenn man auf einer Seite Wasser durch ein Plastikrohr laufen ließ. Die Pflanze kam also nicht damit in Verbindung, sie konnte eigentlich auch keine chemischen Signale aufnehmen – aber Geräusche oder Vibrationen. Tatsächlich sind offenbar Wurzeln, die in Rohre eindringen, eine der wichtigsten Ursachen für Leitungsschäden. (Siehe: The Light Eaters, S. 111)
Menschen können die Fähigkeit erwerben, durch das Schnalzen mit der Zunge oder Fingerschnippen oder das Stampfen mit dem Fuß Geräusche zu erzeugen und das Echo so wahrzunehmen, dass sie sich damit im Raum orientieren, Hindernisse wahrnehmen können. Offenbar ist das ein Impuls, den blinde Kinder gar nicht so selten haben, der ihnen aber oft abtrainiert wird. Natürlich können Menschen nicht gleichermaßen gut Echolokation betreiben wie Delfine, Pottwale oder Fledermäuse, aber Daniel Kish etwa kann sogar Fahrrad fahren damit. (“Die erstaunlichen Sinne der Tiere”, S. 434 ff.)
Der Grund dafür, dass beide Arten, Nasonia giraulti und Nasonia longicornis, sich ansonsten sehr ähneln, nicht fortpflanzen können, sind ihre unterschiedlichen Mikrobiome. Beide tragen unterschiedliche Stämme des extrem weit verbreiteten Bakteriums Wolbachia in sich, die nicht kompatibel sind. Gibt man den Hybriden Antibiotika, stirbt Wolbachia und die Insekten sind lebensfähig.
Es gibt mehrere Fälle, bei denen sich so zeigen lässt, dass die Mikroorganismen, die Tiere in sich tragen, entscheidenden Einfluss auf die Artbildung haben, also in gewisser Hinsicht den Kern der Evolution. (Siehe: Winzige Gefährten, S. 241)
Als Gärtner habe ich schon lange erkannt, dass Pflanzen sich gegenseitig respektieren, ja sogar untereinander fördern. Als wenn sie an einem grossen gemeinsamen Ziel arbeiten.
Wenn man dann bedenkt, dass Wälder ja eigentlich riesige Solarparks sind, die die aufgenommene Energie im Boden speichern und dadurch den Boden nachhaltig fruchtbar machen und so nebenbei noch das Klima regulieren, liegt die Vermutung nahe, dass BEwusstsein nicht einfach durch ein paar elektro-chemische Prozesse entsteht.
Sehr inspirierend! Eines der Bücher gleich bestellt. Möchte noch eines hinzufügen: Suzanne Simard- "Finding the mother tree"/ "Die Weisheit der Wälder- Auf der Suche nach dem Mutterbaum". Forstwissenschaft, Biologie, Forschung dazu- eine Pionierein mit großem Talent, ihre Arbeit kurzweilig zu vermitteln.