Mit dem Blick aufs »Stadtbild« kommt die Debatte über Migration an einen toten Punkt
Politik kann entscheiden, wer neu ins Land kommt. Aber sie muss mit denen leben, die schon da sind.
Friedrich Merz hat schon oft über Migration gesprochen – aber diesmal hat er etwas Neues gesagt. Eher beiläufig, während einer Pressekonferenz in Potsdam. Er lobte die eigene Migrationspolitik, verwies auf sinkende Asylanträge, und sagte dann:
“Wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen.“
Ich habe mir die Sätze im Kontext angehört, sie klingen genauso, wie sie sich lesen. Und sie führen an einen entscheidenden Punkt der ganzen so genannten Migrationsdebatte, mit der sich diese Gesellschaft seit Jahren verrückt macht.
*
In den vergangenen Jahren stand das Thema “Ausländer/Integration/Flüchtlinge” (so fasst die Forschungsgruppe Wahlen es zusammen) stets weit oben in der Problemwahrnehmung der Deutschen. Phasenweise hatte man das Gefühl, das Land reibe sich wund an dieser Debatte. Über Monate gab es politisch kaum ein anderes Thema. Es war kein Auskommen.
Eindeutig ist auch, man kann das leicht zeigen, dass die AfD davon profitiert, wenn viele Menschen sich viele Sorgen über Zuwanderung machen.
Die Frage war immer: Warum machen sie das? Es kursierten zwei zentrale Alltagstheorien.
*
Die erste Theorie lautet: Es liegt daran, dass es schlicht zu viel war. Zu viele Hilfsbedürftige in zu kurzer Zeit. Überlastete Ersthelfer, überfüllte Unterkünfte, unzureichende Integrationsmöglichkeiten, deshalb Konflikte. Dafür stehen die überlasteten Kommunen aus der Debatte ab 2023. In Joachim Gaucks Worten: Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind endlich.
Wenn diese Theorie stimmt, müsste man politisch auf zwei Arten reagieren: Erstens den Staat besser ausstatten. Zweitens dafür sorgen, dass nicht in kurzer Zeit geballt zu viele Menschen nach Deutschland kommen.
Wenn diese Theorie stimmt, müsste die Problemwahrnehmung in der Bevölkerung den Ankünften nachlaufen und sie müsste sinken, wenn weniger Menschen kommen.
Man kann diese Theorie so zusammenfassen: Es gibt aus Sicht der Deutschen ein echtes Problem, aber wir können es politisch lösen, und zwar im Grunde sogar ohne übergroße Härte.
*
Die zweite Theorie lautet: Die Problemwahrnehmung ist polit-medial erzeugt, sie ist eine Folge der endlosen Debatten über das Thema. Wenn die Parteien Migration als Problem, teils als existenzielles Problem beschreiben und wenn die Medien es ständig thematisieren, dann nehmen die Menschen sie auch als Problem wahr.
Wenn diese Theorie stimmt, müssten Politik und Medien vor allem mit ihrer Fixierung auf Migration als Problem brechen.
Wenn diese Theorie stimmt, müsste die Problemwahrnehmung der Berichterstattung und politischen Debatten nachlaufen.
Man kann diese Theorie so zusammenfassen: Es gibt aus Sicht der Deutschen eigentlich gar kein Problem, ihr redet es den Leuten nur ein.
*
Ich habe hier schon mal darüber geschrieben, dass ich dem mit eigenen Daten nachgegangen bin, mit dem Ergebnis: Es gibt einen gewissen Zusammenhang zwischen Problemwahrnehmung und der Zahl an Menschen, die neu Asyl beantragen. Aber es gibt in den vergangenen Jahren einen sehr viel engeren, sogar einen extrem engen Zusammenhang zwischen der Problemwahrnehmung und der Berichterstattung.
Es spricht also manches für Theorie 1 und viel mehr für Theorie 2. Zumal offensichtlich die extreme Rechte, die AfD ebenso wie ihr mediales Vorfeld, alles tut, damit alle über Migration, Migration, Migration sprechen. Es spricht aber auch vieles dafür, dass das nicht alles ist.
Wahrscheinlich erfahren Menschen schon irgendwie, wenn mehr Asylbewerber ins Land kommen. Weil dann in mehr Gemeinden mehr Beamte und mehr Freiwillige und mehr Schulleiter und mehr Kita-Erzieher selbst mit Geflüchteten zu tun haben. Sie erzählen davon. So entsteht in Summe ein Bild, das schon etwas mit der Wirklichkeit an den Grenzen zu tun hat.
Aber wahrscheinlich prägen die Wahrnehmung eher die Menschen, die hier sind, als diejenigen, die kommen. Es geht um Stock, nicht Flow.
Menschen sehen nicht, ob 13 oder 204 Geflüchtete Asyl beantragen. Aber sie sehen, ob in der Schule der Kinder, dem Bus in die Stadt oder auf dem Marktplatz Menschen sind, die anders aussehen oder heißen oder sprechen als jene, deren Urgroßeltern schon vor Ort lebten.
*
Es gibt daher eine dritte Theorie, die das anerkennt, und die man so zusammenfassen kann:
Es gibt aus Sicht der Deutschen ein Problem mit zu vielen Menschen, die kein Recht darauf haben, im Land zu bleiben. Was die Leute aufregt, sind nicht Menschen, die anders sind als sie, sondern Menschen, die sich nicht an Regeln halten. Was sie nicht hinnehmen, ist ein Staat, der seine Regeln nicht durchsetzt. Das Schlagwort dazu lautet: Kontrollverlust.
*
Was Merz jetzt geäußert hat, ganz unabhängig davon, was er selbst glaubt und was man ihm selbst unterstellen will oder nicht, das ist im Grunde eine vierte Theorie. Es ist die düsterste, die bislang vielleicht auch deshalb in der Debatte kaum eine Rolle gespielt hat.
Man kann sie so zusammenfassen: Es gibt aus Sicht der Deutschen ein Problem, unabhängig von Berichterstattung und Ausstattung der Kommunen und Regelbruch und es liegt darin, dass zu viele Menschen im Land sind, die anders heißen, aussehen und sprechen.
Sie läuft darauf hinaus, die Gesellschaft für in hohem Maße xenophob und rassistisch zu erklären.
Die Erfahrung lehrt, dass Friedrich Merz nach kontroversen Aussagen wahrscheinlich erklärt, er sei missverstanden worden. Ich kann mir vorstellen, dass er darauf verweisen wird, dass es nur um Straftäter gegangen sei, oder um Drogensüchtige, jedenfalls um irgendwas, das mit Verhalten zu tun hat, nicht mit dem Sein von Migrant*innen.
An diesem Punkt der Stadtbild-Theorie bekommt man die Kurve zum Verhalten allerdings nicht mehr, fürchte ich.
*
Merz ist nicht der erste Führungsmann der Union, der diese Theorie formuliert hat. CSU-Chef Markus Söder sagte im vergangenen Jahr: “Viele Deutsche fühlen sich in ihren eigenen Stadtvierteln nicht mehr daheim. Nach den Ereignissen von Solingen oder Mannheim zur Tagesordnung überzugehen, ist falsch. Es braucht Zurückweisungen an den Grenzen sowie groß angelegte Abschiebungen auch nach Syrien und Afghanistan. Die doppelte Staatsbürgerschaft für Straftäter muss abgeschafft und das Asylrecht muss geändert werden.”
Ich habe damals immer wieder Politiker*innen der Union gefragt, was daraus folgen würde, wenn man Söder beim Wort nimmt.
Ein abgelehnter Asylbewerber ist im Stadtbild nicht von einem Menschen mit Asyl zu unterscheiden, von einem Touristen oder von einem Deutschen in dritter Generation. Im Stadtbild zeigt sich kein Aufenthaltsstatus und keine Strafakte, sondern nur das eigene Ressentiment.
Ich wollte wissen, was der Befund heißen würde für eine Einwanderungsgesellschaft, in der jede*r Vierte eine Einwanderungsgeschichte hat und jede*r Achte eine andere Muttersprache als Deutsch. Die nie wieder so aussehen wird wie in den Fünfzigern oder Achtzigern, aus der die Barbershops ebenso wenig verschwinden werden wie die Shishabars oder Kopftücher.
Ich habe auf diese Fragen nie eine gute Antwort bekommen. Vermutlich, weil es keine gute Antwort geben kann.
*
Sozialwissenschaftler haben versucht, die “ethnische Fraktionierung” weltweit zu messen. Der Index dafür gibt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit zwei zufällig ausgewählte Personen aus einer Bevölkerung nicht derselben ethnischen Gruppe angehören. Da stellen sich natürlich Tausende Definitionsfragen und der Datensatz, den ich gefunden habe, endet 2013.
Ich habe vor einer Weile danach gesucht, weil mich interessiert hat, ob die Daten zeigen, was man vermuten würde: Dass diese oft mit entfesselter Brutalität homogenisierten europäischen Nationalstaaten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs weniger gleichförmig werden.
Ein Blick in die Daten zeigt für viele Staaten im ehemaligen Ostblock sogar weniger Fraktionierung, also wachsende Homogenität. Für Westeuropa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aber in der Tat: eine stetige Zunahme von Fraktionierung (man könnte auch sagen: mehr Diversität).
Die liegt, im weltweiten Vergleich, immer noch auf niedrigem Niveau. In kaum einem Teil der Welt sind Gesellschaften so homogen wie in Europa. Aber es hat sich eben verändert. Alle europäischen Gesellschaften diesseits des eisernen Vorhangs sind seit 1945 vielfältiger geworden.
*
Wenn es wirklich so wäre, dass das Stadtbild das Problem wäre, dass viele Menschen sich nicht mehr daheim fühlen in ihrer Stadt, wenn sie aussieht, wie eine deutsche Stadt heute aussieht – dann wäre demokratische Politik wahrscheinlich am Ende ihrer Möglichkeiten.
Man könnte diesem Gefühl nämlich nur begegnen, indem man Homogenität erzwingt, und das ginge in der real existierenden deutschen Gesellschaft nur mit autoritären Mitteln, mit schrankenloser Willkür und unvorstellbarer Gewalt.
Die Politik kann mehr Unterkünfte bauen, sie kann Kommunen mehr Geld geben und für schnellere Verfahren sorgen. Sie kann Patrouillen an die Grenze schicken, Abkommen mit Nachbarstaaten schließen und Geflüchteten weniger Geld zahlen. Sie kann den Görlitzer Park umzäunen.
Sie kann schneller und im großen Stil abschieben, wobei das, wenn man es ernst meinte, wahrscheinlich irgendwann so ähnlich aussehen muss wie in den USA derzeit, und da ist demokratische Politik dann auch am Ende. Sie kann falsch finden, wie früher Zuwanderung organisiert wurde. Ändern kann sie es nur sehr, sehr, sehr begrenzt.
Kurz gesagt: Sie kann entscheiden, wer neu ins Land kommt, aber sie muss in den allermeisten Fällen mit denen leben, die schon im Land sind.
Was sie niemals kann, ist ein Heimatgefühl herzustellen, das von der realen Heimat völlig entkoppelt ist. Was sie niemals kann, ist ein Stadtbild zu schaffen, das für jene ordentlich und sicher aussieht, für die Städte derzeit unordentlich und unsicher aussehen. Oder zu wenig Deutsch.
*
Wenn die vierte, die Stadtbild-Theorie zutreffen sollte, dann wäre es ziemlich widersprüchlich, so zu handeln, als glaube man an Theorie 1 (“zu viele auf einmal”), weil man dann bejaht, dass es ein Problem gibt, das man aber niemals lösen kann. Was freilich genau das ist, was Friedrich Merz und Markus Söder versprachen. Wie auch immer das dann funktionieren soll. Ich habe es nie verstanden.
Wenn man wirklich an die Stadtbild-Theorie glaubt, müsste man eigentlich eher handeln wie nach der Agenda-Setting-Theorie (“Das Problem wird den Leuten eingeredet”): vielleicht Zuzug begrenzen (oder nicht), jedenfalls möglichst wenig darüber reden. Was aber auch nur bis zu einem gewissen Grad wirken würde.
Wenn es so wäre, dass die Stadtbild-Theorie zutrifft, dann würde der Unmut so oder so bleiben. Vielleicht auch wachsen. Und man könnte wenig dagegen tun.
Dann wäre man an einem toten Punkt. Politik muss Lösungen anbieten für Probleme, die Menschen umtreiben, aber sie kann an diesem Punkt keine Lösung anbieten, die mit der Gleichheit aller Menschen vereinbar wäre, und mit nationalem und internationalem Recht.
Es gibt Forderungen, die kann eine liberale Demokratie nicht erfüllen. Es wäre deshalb weise, sie nicht auch noch selbst zu formulieren.
Das akustische Stadtbild in Berlin und anderswo in der nördlichen Hälfte des Landes wird dieser Tage immer wieder von trompetenden, lauten Rufen geprägt, die von oben kommen. Das sind Kraniche, die sich sammeln. Später ziehen sie über den Südwesten Deutschlands ab, dorthin, wo der Winter weniger grau und kalt ist, vorwiegend nach Südeuropa.
Wenn Sie auf der Kranichroute wohnen: Schauen Sie doch mal nach oben, wenn Sie draußen sind. Wenn Sie anderswo wohnen: Machen Sie es doch auch. Bestenfalls sehen Sie einen V-förmigen Kranichzug. Schlimmstenfalls sehen Sie den Himmel.
Kopf hoch und herzlich
Jonas Schaible






Danke. So klug, ausgewogen und verständlich geschrieben.
Ich glaube dass alle vier Theorien in der Bevölkerung existieren. Und teilweise werden sie wild durcheinander geworfen. Deshalb ist es wohltuend, sie hier sauber aufgeschlüsselt zu sehen. So kann sich jeder selbst die Karten legen, welcher er anhängt und was dann daraus folgen sollte.