Warum die Rede vom "wahren Kern" keinen wahren Kern hat
Zum Teufel damit. Sie hat genug Schaden angerichtet.
Donald Trump versucht bekanntlich, systematisch das Militär in Städte zu schicken, die mehrheitlich als liberal gelten. Unter anderem Nationalgardisten aus anderen Staaten nach Portland, Oregon. Grund sind Proteste dort gegen die Einwanderungspolizei, außerdem wilde Behauptungen über eine Stadt außer Kontrolle. Eine Richterin hat ihm das untersagt, eine übergeordnete Instanz hat das wiederum gekippt.
Aus der Begründung zitiert die New York Times so:
“Even if the President may exaggerate the extent of the problem on social media, this does not change that other facts provide a colorable basis” to support his decision to use National Guard soldiers, the judges wrote.
Es ist schon beeindruckend und beängstigend, wie leer das Recht offenbar ist, wenn es auf Macht trifft, die sich darum nicht schert.
Immer und immer wieder tut Trump Dinge, die vor fünf Jahren fast alle Laien und Expert*innen unmittelbar und unzweifelhaft als rechtswidrig erkannt hätten - und so oft findet sich ein Gericht, das irgendein Argument findet, warum es doch alles sehr kompliziert ist. Und am Ende möglich.
Jetzt könnte er sich von seinem eigenen Anwalt, der mittlerweile in hoher Funktion im Justizministerium sitzt, eine aberwitzige Hunderte-Millionen-Entschädigung genehmigen lassen – dafür, dass die Justiz gegen ihn ermittelt hat.
No Kings? Sieht derzeit leider anders aus.
Es ist nicht die edelste Stunde der Juristerei, das alles.
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Aber ich wollte diese Begründung zum Anlass nehmen, um über etwas anderes zu schreiben, weil sie die Struktur eines Arguments hat, das mir so oft begegnet. Man könnte die Argumentation der beiden RichterInnen auch so übersetzen:
Die Sache hat doch einen wahren Kern! Oder auch mal: Da ist schon etwas dran.
Gut, sagen sie, das, was Trump anführt, stimmt nicht. Aber das müsse es auch nicht, denn wenn man ihn einfach nicht beim Wort nimmt, wenn man das, was er sagt, dreht und wendet, bis es auf Teile der Welt passt, dann passt es doch zur Welt.
Das ist natürlich Unsinn. Was Trump anführt, um Militär in Städte zu schicken, ist Propaganda. Das Zerrbild, das er von Portland (oder Chicago, oder Los Angeles) zeichnet, hat mit der Realität nichts zu tun. Seine ganze Begründung ist erstunken und erlogen.
Und in diesem Fall dürfte das einigermaßen unstrittig sein. Aber ich kenne das Argument aus politischen Debatten nur zu gut, und fast immer macht es mich rasend.
Die Rede vom wahren Kern hat keinen wahren Kern. Man sollte die Leute damit nicht mehr davonkommen lassen. Zum Teufel mit dem wahren Kern.
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Der Zusammenhang, in dem mir das Argument vom wahren Kern besonders aufstößt, ist die Cancel-Culture-Debatte, die seit Jahren tobt. Sie war hier schon mehrfach Thema, wenn J.D. Vance mal wieder eine Krise der Meinungsfreiheit in Europa behauptet und zugleich extrem rechte Kräfte protegiert.
Das ist kein Zufall. Ich habe es seinerzeit schon einmal geschrieben. Die Geschichte von der durch Cancel Culture gefährdeten Meinungsfreiheit diente der extremen Rechten von Anfang an dazu, sich gegen Kritik zu immunisieren, Tabus zu zertrümmern und sich einen Weg in den politischen Mainstream zu bahnen.
Sie war ein Werkzeug auf dem Weg zur Macht. Sie war, wenn man auf die letzten Jahre zurückblickt, wahrscheinlich das entscheidende Werkzeug. Es hat die liberalen Gesellschaften wehrlos gemacht, Demokraten verdruckst und ängstlich, es hat ihnen den Schutz der Tabus genommen.
Mittlerweile ist wenigstens das nicht mehr allzu kontrovers, weil es so offensichtlich ist, jedenfalls in den USA.
Kontrovers ist der andere Teil der Aussage, der lautet: Sie war nicht nur auch ein Machtmittel der extremen Rechten. Die Cancel-Culture-Erzählung war nie etwas anderes als ein Machtmittel der extremen Rechten.
Sie war immer schon Propaganda, nie ein hilfreiches Werkzeug zur Beschreibung der Wirklichkeit. Wer sie verbreitet hat, hat sich mindestens zum Instrument des autoritären Angriffs auf die freiheitliche Gesellschaft machen lassen. Und der faule Verweis auf den angeblich wahren Kern hat seinen Teil dazu beigetragen.
Aber, aber, wird dann entgegnet, man könne doch nicht bestreiten, dass … es an dieser oder jener Universität eine Vorschrift gegeben habe, zu gendern. Oder unsachgemäße Kritik. Oder Aufrufe, bestimmte Bücher nicht zu veröffentlichen, Redner*innen nicht auftreten zu lassen. Irgendeines dieser Beispiele, die teils seit Jahren kursieren.
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Zur Frage, warum es Cancel Culture nicht gibt, warum es uns aber trotzdem so vorkommt, habe ich schon vor Jahren einen ausführlichen Essay geschrieben (+). In allergrößter Verkürzung: Weitung und Verschiebung, nicht Verengung des Korridors des Sagbaren, plus veränderte Skandalkultur durch Medienwandel.
Ich verstehe, dass es Gründe gibt, warum die Diagnose auf manche plausibel wirkte. Das bedeutet aber nicht, dass sie stimmte.
Man könnte jetzt fragen: War das nicht der wahre Kern, dem ich mich da gewidmet habe?
Und ich würde entgegnen: Nein, eben nicht. Ich habe mich einer anderen Erzählung gewidmet.
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Dass bestimmte Fälle existieren, dass bestimmte Ereignisse geschehen sind, dass bestimmte Aussagen getroffen wurden, heißt nicht, dass an der Art, wie sie zu einem Zusammenhang gewoben werden, etwas dran ist. Es heißt nicht, dass die Beschreibung der Wirklichkeit, die jemand mit ihrer Hilfe vornimmt, der Wirklichkeit nahekommt.
Vielleicht kann man sich solche Großerzählungen vorstellen wie ein Malen-nach-Zahlen-Bild: Die Punkte sind unbestreitbar da, aber je nachdem, wie man sie verbindet, ergibt sich ein anderes Bild. Manchmal ein Zerrbild. Manchmal auch nur Gekritzel.
Wie man sie verbindet, das ist entscheidend, wenn es ums ganze Bild geht.
Anders formuliert: Erzählungen wie die von der Cancel Culture ergeben ein Modell der Wirklichkeit, mit dem wir uns die Welt erschließen. Und dass sie Elemente enthalten, die Elemente der Wirklichkeit gut abbilden, bedeutet nicht, dass sie es als Ganzes tun.
Man kann ein detailgetreues Abbild einer Bahnstrecke mit einer Modelleisenbahn bauen, samt Straßennamen und Kirchturm – wenn die Lok am Ende in einem Tunnel gegen die Wand kracht, ist das Modell als Modell der Wirklichkeit nicht zu gebrauchen.
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Wer davon redet, dass diese oder jene Behauptung doch einen wahren Kern habe, scheint auf den ersten Blick gedankliche Offenheit zu leben oder auch hermeneutisches Wohlwollen: Er unterstellt der anderen erst einmal, dass sie einen Punkt haben könnte.
In Wahrheit aber gibt er sich nur der eigenen Faulheit hin – oder, schlimmer noch, aber gar nicht selten, den eigenen Vorteilen. Es ist einfach, zu sagen, irgendetwas sei doch dran. Weil man es selbst glaubt. Oder weil man nicht weiter nachdenken will.
Was ist denn dran? Und was heißt das?
Wenn eine Erzählung falsch ist, dann lautet die sinnvolle Frage nicht: Welche Elemente sind wahr?
Die sinnvolle Frage lautet dann: Welche andere Erzählung bildet die Wirklichkeit besser ab?
Wenn die Eisenbahn gegen die Wand kracht, hilft es nichts, dass die Waggons perfekte Imitate sind. Dann muss man die Sache ganz anders aufgleisen.
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Es ist nicht so, wie es aussieht – wie ist es dann und warum sieht es so aus?: Vielleicht verrate ich hier gerade leichtsinnig ein schlecht gehütetes Geschäftsgeheimnis, aber Texte, die besonders gut funktioniert haben, auf die ich besonders oft angesprochen werde, waren immer wieder so aufgebaut. “Warum es keinen Rechtsruck gibt, aber die extreme Rechte trotzdem wächst”, zum Beispiel.
Mein Buch, “Demokratie im Feuer”, versucht das im Grunde auch: zu zeigen, warum das Gerede von der Ökodiktatur Unsinn ist. Und herzuleiten, wo in Wahrheit die demokratietheoretische Herausforderung der Klimakrise liegt, die dieses Gerede womöglich anschlussfähig macht.
Offenbar klappt das auch mit mehr Reichweite: “Triggerpunkte” von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser funktioniert sehr ähnlich. Die drei Soziologen zeigen, warum die Erzählung vom gespaltenen Land falsch ist – sie zeigen außerdem, warum sie uns trotzdem so plausibel vorkommt und wie sich die Welt besser verstehen lässt.
Sie haben sich dafür Mühe gemacht und machen müssen, umfassende Studien angestellt. Das ziemlich akademische Buch wurde ein Bestseller. Die Wirklichkeit hat glücklicherweise noch immer eine gewisse Anziehungskraft.
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Es gibt, anderes Beispiel, noch eine andere Geschichte, die derzeit ziemlich populär ist, und aus meiner Sicht auch falsch: die Erzählung von der CDU, die eine Zusammenarbeit mit der AfD vorbereite.
Wenn ich das sage, und ich habe das auf Bluesky durchexerziert, ernte ich viel Empörung und Verweise auf das, was geschehen ist.
Friedrich Merz hat zu Jahresbeginn nach dem Messerattentat von Aschaffenburg im Bundestag seine von ihm ausgegebenen Vorgaben gebrochen und wissentlich mit der AfD einen Antrag durchgestimmt. In den Kommunen, vor allem in Ostdeutschland und vor allem seit den Kommunalwahlen 2024, ist die Brandmauer nur noch eine Ruine. Jens Spahn hat gesagt, man solle die Partei wie jede andere Oppositionspartei behandeln. Teile des Vorfelds reden der AfD das Wort.
Und das, was Merz zum “Stadtbild” gesagt hat, was er gegen Kritik verteidigt und damit zum neuen Kernbestand christdemokratischer Wahrheiten gemacht hat, ist ein neuer Tabubruch. In Großbritannien, wo gerade eine ähnliche Debatte läuft, führte es schon zur Forderung einer Tory-Politikerin, auch Menschen massenhaft loszuwerden, die legal im Land sind. Ziel: “kulturelle Kohärenz”.
All das ist wahr, man findet in der CDU auch Menschen, die gern mit der AfD koalieren würden, vor allem auf den unteren Ebenen, und vermutlich gar nicht wenige. Und trotzdem ist, nach meiner Überzeugung, die Erzählung falsch, die Union bereite eine Zusammenarbeit vor. Weil mindestens fast alle der führenden Kräfte es nicht wollen. Inklusive Friedrich Merz. Weil sie keine Lust haben, mit einer mindestens gleich starken radikalen Kraft zusammenzuarbeiten. Weil sie die AfD wirklich ablehnen, selbst wenn sie manches, was sie fordert, auch wollen.
Auch in diesem Fall gilt: Diese Erzählung hat keinen wahren Kern.
Das heißt aber nicht, dass da nichts ist. Es ist nur etwas anderes da. Es gibt Gründe, warum die These so vielen Menschen so plausibel vorkommt. Die Vorgänge sind bedeutungsvoll und man muss sie ernst nehmen.
Man muss sie allerdings anders zusammensetzen. Sonst wird man der Wirklichkeit nicht auf die Spur kommen. Und schon gar nicht gehört werden von jenen, über die man spricht.
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Die wichtigsten Stränge habe ich Anfang des Jahres in einem Essay schon einmal verbunden: “Friedrich Merz und die rechte Versuchung” (+).
“Die große Entscheidung, die ansteht, ist die, ob die Union zufrieden damit ist, im Kanzleramt die Leitlinien der Politik zu bestimmen. Dafür hat sie das politische Mandat.
Oder ob sie sich als Teil eines rechten Projekts sieht, das Entwicklungen revidieren soll, die weit über eine moderate Vermittigung der eigenen Partei unter Angela Merkel hinausreichen. Es gibt einige Hinweise darauf, dass wichtige Christdemokraten verführt sind, das Land grundlegend auf rechts zu drehen.
Das hätte zur Voraussetzung und zur Folge, nicht nur demokratische Wettbewerber als grundlegende Gegner zu begreifen. Es würde dauerhaft auch nicht gehen, ohne die AfD mindestens als nützliches Instrument in diesem Kulturkampf zu begreifen.
(...)
Auf eine Formel gebracht: Eine erneuerte CDU für die Zwanzigerjahre gibt es nur als Kompromiss in demokratischer Verantwortung. Die heutige CDU plus die AfD ergibt dagegen nicht die CDU von früher. Sondern den J.D. Vance von heute.”
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Es gibt dazu aber natürlich sehr viel mehr zu sagen. Man merkt, dass sich gerade etwas verschiebt, dass die Tatsache, dass die extreme Rechte so viel Erfolg hat und keine einfache Gegenstrategie existiert, viele Menschen tief verunsichert. Da liegt die große Debatte dieser Zeit.
Dazu gibt es hier hoffentlich demnächst einen eigenen Text.
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Bis dahin: Vergessen Sie doch den “wahren Kern”. Das macht es leichter, der Wirklichkeit auf die Spur zu kommen und sich zu wehren gegen gefährlichen Unsinn: von Richtern, die Trump das Wort reden bis zur Behauptung, die Meinungsfreiheit in Europa sei in Gefahr.
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Überlassen Sie die Suche nach wahren Kernen einfach den Eichhörnchen. Die sind gerade wieder emsig draußen unterwegs. Und sie können mit Kernen viel mehr anfangen.
Wo wir schon dabei sind, die Dinge ein bisschen gegen den Strich zu bürsten – wie wäre es mit Fruchtfliegen? Doch, doch, genau die!
Fruchtfliegen sind harmlos, mild nervig und umfassend erforscht. Vor ein paar Jahren hat man dabei eine faszinierende Entdeckung gemacht, von der ich kürzlich erst gelesen habe.
In einer Studie wurde getestet, ob Fruchtfliegen sich durch andere Fliegen in ihrer Partnerwahl beeinflussen lassen. Die Originalstudie ist leider hinter einer Paywall verborgen, aber ich verstehe die Anordnung so:
Eine Fliege sah dabei zu, wie eine andere Fliege zwischen zwei Männchen wählte, die verschieden eingefärbt waren. Danach bekam sie selbst die Wahl zwischen verschiedenfarbigen Männchen – und entschied sich so häufig für die Farbe, für die sich die andere Fliege entschieden hatte, dass es kein Zufall sein konnte.
Die Schlussfolgerung: Wen eine Fruchtfliege attraktiv findet, ist ihr nicht eingeschrieben, es ist auch nicht objektiv herleitbar – sondern wenigstens in Teilen durch das geprägt, was andere Fliegen tun.
Hotness ist ein soziales Konstrukt, könnte man sagen, offenbar auch unter Fruchtfliegen.
Seit ich das gelesen habe, sehe ich die Biester irgendwie mit anderen Augen. Wer weiß schon, was sie noch alles beobachten? Und was das in ihnen auslöst?
Sollen sie halt Essig schlürfen.
Prost und herzlich
Jonas Schaible



Grundsätzlich kann ich Ihrer These von der narrativen Neumotivierung von Wirklichkeitschbeschreibungen vieles abgewinnen. Im Punkt AfD-CDU-Verhältnis würde ich aber eine andere Erzählung vorschlagen, die der Ihren darin überlegen wäre, dass sie eine größere Anzahl an Wirklichkeitspunkten integrieren könnte: Die CDU hat neben dem Kanzleramt noch ein weiteres Machtzentrum, die von Jens Spahn orchestrierte Bundestagsfraktion, und dessen Interessen gehen mit denen von Hrn. Merz nicht immer konform, laufen ihnen oft genug zuwider, nicht zuletzt darin, dass Hr. Spahn gerne selbst Kanzler wäre... Viele der Punkte, die Hrn. Merz in der Öffentlichkeit haben schlecht aussehen lassen, angefangen mit der Kanzlerwahl und gipfelnd in der Kampagne gegen Frau Brosius-Gersdorf, hatten mit der CDU-BT-Fraktion zu tun, und eine Schwächung des CDU-Kanzlers Merz ist nun einmal im Sinne der persönlichen Ambitionen des CDU Fraktionsvorsitzenden (schon allein, dass Hr. Spahn den Fraktionsvorsitz übernehmen konnte, sehe ich als Niederlage/Schwächezeichen von Hrn. Merz). In diesem Bild wäre die Diskussion um eine CDU-AfD-Kooperation, die Hr. Spahn ja selbst immer wieder befeuert, zum einen ein weiterer Versuch, Hrn. Merz zu schwächen und zum anderen die diskursive Vorbereitung für den einzigen Weg Hrn. Spahns ins Kanzleramt: als Chef einer AfD-tolerierten Minderheitsregierung. Dass Hr. Spahn politisch schwer angeschlagen ist, spricht meines Erachtens nicht dagegen, sondern liefert ein weiteres Motiv: Um seine politische Karriere zu retten, bleibt Hrn. Spahn eigentlich nicht viel mehr übrig als die Flucht ins Kanzleramt...