Wenn es aussieht, wie Kriegsvorbereitungen, sind es womöglich Kriegsvorbereitungen
Und keine Provokationen.
Vilnius am Abend
Alle paar Tage werden gerade Flughäfen geschlossen, weil Drohnen in der Nähe gesichtet wurden. Kürzlich flogen russische Drohnen über polnisches Staatsgebiet, einige hatten womöglich Kurs auf einen militärischen Flugplatz. Dann drangen sogar russische Kampfflieger in den estnischen Luftraum ein. Angriffe auf Unterseekabel, Überflüge über Werften und Kraftwerken gibt es ohnehin dauernd.
Häufig wird ein Wort gebraucht, um so etwas zu beschreiben: Provokation.
Russland provoziere damit, heißt es, und ich finde das wirklich kein bisschen hilfreich.
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Ich sehe das so: Eine Provokation ist der Versuch, jemand dazu zu bringen, die Kontrolle zu verlieren, die Beherrschung, die Contenance. Er soll tun, was er eigentlich nicht tun will und würde, wenn er Zeit hat, darüber nachzudenken.
Das macht eine Provokation nur wirksam, wenn sie nicht als solche erkannt wird. In dem Moment, in dem jemand die Ruhe und Einsicht hat, zu sagen, “das ist eine Provokation!”, hat sie eigentlich ihre Wirkung verfehlt. Vor allem kann jemand, der auf eine Provokation reagiert, die er als Provokation beschreibt, nicht mehr behaupten, provoziert worden zu sein.
Wenn sie erkannt wird, verliert die Provokation ihren dunklen Zauber.
Das, was Russland (in manchen Fällen gesichert, in manchen Fällen mutmaßlich) tut, sind also keine Provokationen.
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Natürlich können sie Deutschland, Polen, die Nato, den Westen, wen auch immer trotzdem zu Handlungen bewegen, die man lieber unterlassen hätte. Zum Beispiel: russischen Jets mit Abschuss drohen. Oder sie gar wirklich abschießen. Aber nicht jede Handlung, die man vollzieht, weil jemand anderes etwas tut, ist Folge einer Provokation. Es wäre einfach eine Reaktion auf eine Tat.
Und diese Unterscheidung scheint mir wichtig, weil die Beschreibung als Provokation immer auch kommuniziert: Ganz so ernst ist es nicht. Der eigentliche Zweck einer Provokation ist die Provokation selbst, das Reizen des Gegenübers.
Mir kommt es nur sehr unplausibel vor, dass der eigentliche Zweck dieser Drohnenüberflüge ist, die EU-Staaten zu reizen.
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Was ist dann der Zweck? Das ist die eigentliche Frage und wenn man das Provokationsgerede beiseiteschiebt, dringt man endlich zu ihr vor. Was soll das?
Für mich als Laien sieht es so aus, als lege sich Russland ein möglichst detailliertes Arsenal an möglichen Routen, möglichen Zielen, möglichen Angriffsmustern zurecht. Man muss davon ausgehen, dass Russland aktuell nicht nur ein sehr genaues Bild davon hat, wo in Europa kritische Infrastruktur liegt. Sondern auch davon, welche Infrastrukturen man von wo wie gut oder schlecht mit welchen Drohnen erreichen und mit welcher Gegenwehr man rechnen muss.
Das wäre dann keine Provokation, sondern Kriegsvorbereitung – und aus meiner Sicht die viel weniger verquaste Erklärung.
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Dass Russland den Krieg will, ist damit nicht gesagt, auch wenn es in Russland selbst wohl einen anschwellenden Bocksgesang gibt, der vom großen hinterhältigen Krieg des Westens handelt. Aber wer den Krieg für möglich hält, rüstet besser zum Krieg. Und wer zum Krieg rüstet, hält ihn vermutlich für möglich.
Oder anders: Wenn es aussieht, wie Kriegsvorbereitungen, sind es womöglich Kriegsvorbereitungen und keine Provokationen.
Nun muss man nicht unbedingt befürchten, dass Russlands Armee, die in der Ukraine unter enormen Verlusten um Meter und Meter kämpft, in der Lage wäre, durch Polen nach Berlin und Paris zu marschieren. Und eine große Atomraketenschlacht wäre auch nichts als unverstellter suizidaler Wahnsinn.
Aus meiner Sicht gäbe es trotzdem ein gar nicht so unplausibles Szenario, aus Russland, aus Putins Sicht.
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In der Ukraine geht es nicht recht voran, der große imperiale Triumph bleibt aus und wird es mindestens noch viele Jahre. Der Blitzkriegmarsch nach Kiew scheiterte. Aber wenn die Vermutung lautet, dass die USA sich an Artikel 5 nicht mehr gebunden fühlen, und das tun sie ziemlich offensichtlich nicht. Wenn das Kalkül nach drei Jahren gereift wäre, dass alle Seiten und die Europäer zumal aus guten Gründen alles tun, um eine nukleare Eskalation zu vermeiden. Und wenn das Kalkül schließlich wäre, dass man die wichtigen europäische Staaten durch Drohnenschläge ziemlich intensiv beschäftigen, stellenweise lähmen könnte.
Dann könnte man auf die Idee kommen, die für sich genommen einigermaßen wehrlosen und sehr kleinen baltischen Staaten anzugreifen, um dort schnell jenen imperialen Sieg zu erringen, der in der Ukraine verwehrt bleibt. Hochriskant? Natürlich. Aber ich fände das, gegeben das russische Handeln, heute nicht mehr so absurd.
So wie der russische Aufmarsch im Sommer 2021 auf echte Kriegspläne hindeutete, scheint mir auch das auf mindestens echte Szenarienplanung hinzudeuten. Aber ich habe, wie gesagt, keinerlei Erkenntnisse, ich spreche nicht mit Geheimdienstlern, ich deute nur Zeichen – und ich hoffe sehr, sehr, sehr, dass ich irre.
In den USA eskaliert die Trump-Regierung weiter. Die Regierung inszeniert einen erfundenen Bürgerkrieg, um sich selbst die Erlaubnis zu erteilen, mit militärischer Gewalt vorzugehen.
Meine Social-Network-Feeds sind voll von Videos, in denen ICE-Schergen Menschen angreifen, zu Boden werfen, über den Boden zerren. Von Menschen, die berichten, wie es zugeht, wenn Trumps sich formende Geheimpolizei einrückt. Ein Mann wurde angeschossen, als er versuchte, in seinem Auto vor einer Verschleppung zu fliehen.
Offensichtlich gibt es Menschen, die diese Video sehen und denken: Toll, genau das brauchen wir. Eine dieser Personen führt die altehrwürdigen britischen Tories. Parteichefin Kemi Badenoch hat jetzt versprochen (oder eher: gedroht), würden die Konservativen wieder regieren, würde es Razzien nach ICE-Vorbild geben.
Politik ist eben immer schon ganz massiv: Imitation. Soziale Phänomene kommen in Wellen, sicher auch, weil die Bedingungen dafür an vielen Orten gegeben sind, aber auch, weil Menschen kopieren, nachahmen, lernen, nachäffen.
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Dazu passt, dass die Trump-Regierung jetzt viele Milliarden an den argentinischen Präsidenten Javier Milei gibt, um dem Kettensägen-Staatsverächter im Amt mit Staatsgeld kurz vor Parlamentswahlen aus der Klemme zu helfen. Es ist natürlich alles sehr widersprüchlich, aber darüber sollte sich längst niemand mehr wundern.
Vor allem ist es auffallend, wie offensiv sich die autoritäre extreme Rechte gegenseitig feiert, lobt, unterstützt und an die Macht zu bringen versucht. Vor ein paar Jahren fragte man noch, ob Nationalisten kooperieren könnten (ich habe damals schon geschrieben: Ja!). Jetzt muss man sagen: Selbst Teenager-Cliquen kleben nicht so aneinander.
Vielleicht steckt darin aber auch Hoffnung. Vielleicht tun sie das, denke ich mir, weil sie wissen, wie mächtig Imitation ist. Und weil sie wissen, dass ihre Politik Chaos bringt, Armut, Unsicherheit, Verfall. Weil sie den Menschen vor allem zwei Dinge zu bieten haben: Abwertung von anderen und das Gefühl, oben zu sein, vorn, da, wo Geschichte gemacht wird.
Anders gesagt: Sie brauchen einander, alle, Trump und Orban und Milei und die AfD und Le Pen, mehr als andere Parteien einander brauchen. Sie brauchen die anderen, um das Gefühl aufrechtzuerhalten, dass sie unausweichlich sind, auf dem Weg zur Macht, auserkoren von der Geschichte, diesseits des Vibe-Shifts.
Weil es die anderen gibt, können sie sich aufpumpen zur historischen Macht. Nur wer sagt, dass diese Machtprojektionsblase nicht auch platzen kann? Mir scheint, dass man das im MAGA-Lager durchaus ahnt.
Neulich schrieb ich darüber, warum ich es nicht für ausgeschlossen halte, dass Trump den so begehrten Friedensnobelpreis bekommt, auch wenn das angesichts der Bürgerkriegsinszenierung in den USA absurd wäre.
“Ich mache mir wenig Hoffnung, dass es in der Ukraine in absehbarer Zeit Frieden gibt. (…)
Aber anderswo in der Welt könnte es diplomatische Erfolge geben, in Israel zum Beispiel. Vielleicht ein Ende der Bomben auf den Gaza-Streifen. Vielleicht neue Abkommen mit Nachbarstaaten. Der Druck auf Israels Regierung wächst, im Land und international. Wenn es so käme, dann würden die USA sicher eine Rolle spielen. Und dann?
Nun gibt es tatsächlich Aussicht auf Frieden in Gaza. Ich habe meine Zweifel, dass das trägt, aber man kann es nicht ausschließen.
Es ist in diesen Tagen nicht ganz leicht, zwischen russischer Bedrohung und sich festigendem, gut, ich sage es jetzt: Faschismus in den USA noch den Blick für irgendetwas anderes zu behalten.
Am Samstag hatte ich zufälligerweise mal wieder das Radio laufen, als im Deutschlandfunk “Gesichter Europas” lief, eine einstündige Sendung, in der Reportagen aus jeweils einem europäischen Land zu einem Thema kommen. Als Student habe ich diese Sendung sehr geliebt. Dieses Gefühl, etwas zu verstehen vom Leben anderswo, ohne, dass ich muss. Diesen Luxus, sich für Gesellschaften zu interessieren, von denen nicht akut das eigene Leben abhängt.
Gerade schaffe ich das nur noch selten, weil von der Verfasstheit der USA, der wirtschaftlichen Lage in China und dem Revanchismus in Russland eben unmittelbar das eigene Leben abhängt. Die Klimakrise ist sowieso da und jetzt läuft auch noch das Wettrennen von Big-Big-Money um Künstliche Intelligenz (dazu bald mal mehr), man hat allein mit dem Notwendigen alle Hände und Hirne voll zu tun.
Aber die Sendung tat gut. Man wird ein Schrumpfmensch, wenn man den Blick für alles verliert, was nicht unmittelbar notwendig ist, oder für alle, die nicht im Zentrum stehen.
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In diesem Fall ging es um Serbien und die Protestbewegung gegen die Regierung dort, die sich nun schon seit elf Monaten ziehen und auf ihre Art mit das beeindruckendste Beispiel von zivilgesellschaftlichen Aufbegehren gegen Korruption und Machtmissbrauch derzeit sind. Diese Bewegung hat den Ministerpräsidenten gestürzt und rennt vergeblich gegen den Präsidenten Alexander Vučić an, lässt sich davon aber nicht beirren.
Was zeigt, wie bemerkenswert die Farbrevolutionen Anfang der Nullerjahre waren und auch der Arabische Frühling 2011 (beides auch Beispiele für Imitation und Ansteckung als Macht der Geschichte), die so schnell zu Regierungswechseln und teils zu Regimewechseln führten. Was wiederum nur vor Augen führt, dass der Kampf gegen jene, die nichts Gutes im Schilde führen, eben harte Arbeit ist.
Die autoritäre extreme Rechte arbeitet mit viel Geld und der Übernahme kritischer Medieninfrastruktur seit Jahren, teils Jahrzehnten daran, die Normen und Tabus der liberalen Demokratie aufknacken, und noch hat sie nicht gewonnen. Warum sollte es umgekehrt mit einem Fingerschnippen gehen, sich zu wehren?
In Litauens Hauptstadt Vilnius soll künftig ein Satz des deutschen Bundeskanzlers Friedrich Merz am Rathaus stehen: “Der Schutz von Vilnius ist der Schutz von Berlin.” Hintergrund sind natürlich die russischen Drohungen. Da ist man also mitten in der großen Weltkrise. Aber man kann, apropos Blick für das Kleine, einfach ein bisschen weiterschlendern, ins kleine Quartier Užupis am Fluss.
Es war mal ziemlich heruntergekommen, wurde dann, klassische Entwicklung, von Künstler*innen entdeckt und ist jetzt jedenfalls in Teilen eines dieser hippen alternativen Künstlerörtchen, die es in vielen europäischen Hauptstädten gibt.
In den Neunzigern wurde dort in einer Kunstaktion eine Freie Republik ausgerufen. Aber nicht mit grünen Männchen und Waffen und Flüchen gegen andere, sondern mit einer Verfassung, an die ich kürzlich wieder denken musste, und die so wunderbar leise und freundlich und ironisch ist, dass sie wie gemacht ist für das Ende dieses Newsletters.
Sie beginnt so: “Jeder Mensch hat das Recht, beim Fluss Vilnelė zu leben und der Fluss Vilnelė hat das Recht, an jedem vorbei zu fließen.”
Darin heißt es:
“10. Jeder Mensch hat das Recht, eine Katze zu lieben und für sie zu sorgen.
11. Jeder Mensch hat das Recht, für seinen Hund zu sorgen bis einer von beiden stirbt.
12. Ein Hund hat das Recht, Hund zu sein.
13. Eine Katze ist nicht verpflichtet, ihren Hausherren zu lieben, aber in schweren Momenten muss sie ihm beistehen.”
Was ich sehr fair finde. Und sie endet so:
“33. Jeder Mensch hat das Recht zu weinen.
34. Jeder Mensch hat das Recht, unverstanden zu bleiben.
35. Kein Mensch hat das Recht, einen Anderen schuldig zu machen.
(…)
Besiege nicht
Wehre dich nicht
Gib nicht auf
Geben Sie nicht auf!
Herzlich
Jonas Schaible




Hallo Herr Schaible,
vielen Dank für Ihre Einschätzung und die Einordnung des Begriffs Provokation. Es hilft mir, einen klareren Blick zu bekommen und macht mir bewusst, dass ich oft viel zu schnell unkritisch die Verwendung übernehme, die durch die Medien gejagt wird.
Also, Hirn einschalten und gute Artikel lesen🙂
Herzliche Grüße
Guten Tag,
danke für diesen Artikel der für mich eine gute Einordnung von wichtigen aktuellen Ereignissen bietet. Und ja, in den Drohnenüberflügen kann man nichts anderes sehen als militärische Aufklärung zwecks vorbereitet sein auf kriegerische Dinge - vorsichtig formuliert.
Ich habe die Befürchtung, dass mit diesen Drohnen eine Art unterschwellige Kriegsführung geplant wird. Angriffe auf die baltischen Staaten bei gleichzeitigen Anschlägen auf unsere Infrastruktur um Furcht und Verwirrung zu stiften. Kann mir schon vorstellen, dass in so einem Fall ausgewählte Ministerpräsidenten mit Nähe zu Putin (man kennt sie ja) sofort vor jeder "agressiven" deutschen und europäischen Maßnahme abraten würden.
Bitte weiter solche Artikel.
Joachim Sonnen