Wir können nicht alles schaffen, selbst wenn wir wollen
In der Migrationspolitik regiert ein merkwürdiger Glaube an die Formbarkeit der Welt. Und es ist gar nicht so entscheidend, ob die AfD vor der CDU liegt oder dahinter.
Das hier ist kein Luftschloss. Aufgenommen im sächsischen Landtagswahlkampf.
Hinter uns liegt eine Woche, die noch nachhallen wird. Die CDU hat nach Solingen entschieden, mit aller Kraft eine Migrationsdebatte führen zu wollen. Die Ampel hat Gesetzesänderungen angekündigt. Der erste Abschiebeflieger nach Afghanistan brachte 28 Männer dorthin.
Eine Sache, über die ich nachdenke, ist das politische Erwartungsmanagement.
CDU-Chef Friedrich Merz hat, ich habe das in einem Text ausgiebig zitiert (+), im Grunde gesagt: Es solle jetzt erst einmal gar keine Einwanderung von Menschen mehr geben, die nicht schon mit Aufenthaltsgenehmigung einreisen.
Das ist, nach menschlichem Ermessen, ein nicht zu haltendes Versprechen, in einer rechtsstaatlichen Demokratie zumal. Er kann daran nur scheitern, auch wenn sich der Kanzler auf Gespräche einlassen sollte oder selbst wenn er neuer Kanzler werden sollte.
Wenn man das anmerkt, dann hört man darauf solche Entgegnungen: Ein Oppositionsführer dürfe das. Man müsse mit Maximalforderungen in Verhandlungen gehen, um dann weniger, aber immer noch viel zu bekommen. Dann wäre ja viel gewonnen.
Ich verstehe das, aber ich glaube, es ist falsch. Oder jedenfalls: Es ist bei bestimmten Themen falsch.
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Ein anderes Beispiel, über das ich in diesem Zusammenhang viel nachgedacht habe, ist das Klimageld. Also die Rückzahlung der Einnahmen aus dem CO₂-Preis pro Kopf. Diese Idee ist so alt wie die deutsche CO₂-Steuer. So begründete etwa die damalige Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) 2019, warum eine Steuer nicht überhart sei für die Ärmsten.
Ich fand das Argument damals nachvollziehbar und halte es für wahrscheinlich, dass ein Klimageld damals manchen Zorn hätte dämpfen können. Es war eine gute Idee.
Heute, ein halbes Jahrzehnt und viele Eskalationsschritte in der Klimadebatte später, wiederholen manche Politiker und Aktivistinnen die Forderung immer und immer wieder. Aber die Umstände haben sich geändert.
Die Summe, die man damit zurückbekäme, wäre pro Kopf ebenso überschaubar wie damals. Aber der Kulturkampf ums Klima wurde angeheizt. Jahre der Klage über steigende Benzinpreise liegen hinter uns. Umfragen zeigen überdies, dass ein Pro-Kopf-Klimageld gar nicht so beliebt ist.
Es würde die Akzeptanz der Bepreisung ganz sicher nicht extrem erhöhen. Dazu ist zu viel passiert. Dazu hat auch die politische Debatte zu hohe Erwartungen geschürt. Es ist eine gute Idee, aber keine so gute Idee, dass sie einen jahrelangen politischen Kampf rechtfertigt.
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Als allgemeine Regel könnte man probehalber formulieren: Politisiere nur solche Probleme, die Du auch weitgehend lösen kannst.
Wenn eine Maßnahme nicht substanziell dazu beiträgt, ein beschriebenes Problem aus der Welt zu räumen, dann kann sie trotzdem sehr sinnvoll sein. Wenige Maßnahmen räumen Probleme aus dem Weg. Die wenigsten Probleme lassen sich aus dem Weg räumen.
Aber der Nutzen überwiegt dann nur, wenn man nicht wahnsinnig viel politisches Kapital dafür einsetzen muss.
Damit wären wir wieder mitten in der Migrationsdebatte. Man kann zur Frage, wie viel Grenzsicherung nötig ist, wie viel Zuwanderung möglich, wie viel Integration leistbar, wie viel Unterstützung menschlich ist, unterschiedliche Positionen haben.
Aber man wird in einer erhitzten Debatte, die von weit rechts strategisch aufgeheizt wird, mehr Schaden als Nutzen anrichten, wenn man immer und immer wieder auf Lösungen drängt, die nichts lösen.
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Was natürlich voraussetzt, anzuerkennen, dass die ganze Rede davon, »ein Problem zu lösen«, in den allermeisten Fällen vereinfachend und falsch ist.
So funktioniert Gesellschaft nicht. So sind gesellschaftliche Probleme nicht verfasst.
Umso mehr verblüfft mich der Voluntarismus der aktuellen Debatte. Wer sagt, »es reicht!«, tut so, als wäre die Welt nur Wille und Vorstellung. Es stimmt ja, dass Politik dazu da ist, Gesellschaft zu formen. Dass sie Gesetze, Regeln und Normen ändern und beeinflussen kann – und soll.
Nur kann sie das nicht nach Belieben tun.
Eigentlich ist das eine Binse und breit anerkannt. Die ganze Idee eines freien Marktes als Steuerungsprinzip baut auf der Überzeugung auf, dass Gesellschaft kaum sinnvoll zentral zu lenken ist.
Dazu ist sie zu komplex, zu groß, es gibt zu viele Variablen und Wechselwirkungen, die kein Apparat wirklich überblicken kann, ein Mensch schon gar nicht.
Ich habe das in »Demokratie im Feuer« in Bezug auf Klimaschutz so formuliert:
»Selbst wenn man wollte, könnte man keinen globalen Fünfjahresplan für den Klimaschutz schreiben. Selbst eine noch so mächtige zentrale Behörde könnte die Veränderungen nicht im Detail vorausplanen, umsetzen und lenken. Das heißt aber nicht, dass politische Steuerung für die Katz ist und man sie sich sparen sollte.«
Mein Vorschlag im Klimaschutz: Reibungsverluste einfach hinnehmen, voll darauf zielen, das Ziel zu erreichen, also Effektivität vor Effizienz. Sich außerdem darauf einstellen, dass man scheitern und Fehler machen wird, den raschen Kurswechsel schon einplanen. Umkehrbarkeit zum Prinzip erheben.
Man kann das gewiss auch anders schaffen, aber man braucht doch immer eine Idee davon, wie man eingeschränkte Steuerungsfähigkeit mitdenken und Erwartungsmanagement betreiben kann, wenn man versucht, zu steuern, wo man es schwerlich kann.
Ansonsten wird das Ergebnis immer kleiner sein als das Versprechen.
Dann hat man im Fall der Migrationspolitik das Gegenteil von dem erreicht, was man zu erreichen behauptet: Man hat eine ziemlich giftige Debatte nicht entgiftet, sie nur weitergetrieben und noch etwas giftiger gemacht.
Gerade viele von denjenigen, die jetzt markige Forderungen loswerden, wissen eigentlich, dass das nicht geht. Sie sind eher für den Markt und gegen staatliche Eingriffe.
Und es ist ein Treppenwitz, ausgerechnet in diesem Fall so zu tun, als könnten wir alles schaffen, wenn wir nur wollen – ausgerechnet in einer Migrationsdebatte, die einem seit Jahren entgleitet, egal, was man probiert. In der man getrieben ist von Rechtsaußen. Die es also nur in dieser Schärfe gibt, weil es nicht so ist.
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Noch etwas giftiger dürfte alles nach dem Sonntagabend werden, wenn die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen da sind. Die AfD wird in beiden Bundesländern stark abschneiden. So viel ist sicher.
Was landauf, landab ausgedeutet werden wird, ist die Frage: Liegt sie auf Platz 1? In Thüringen sieht es derzeit in Umfragen so aus, in Sachsen aktuell nicht.
Ich weiß, warum das so ist. Ich verstehe die symbolische und reale Bedeutung von »stärkste Kraft«, ich habe das auch selbst sicher schon geschrieben. Aber am Ende ist es doch: unerheblich.
Ich habe wirklich gezuckt, als ich hörte, wie Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer im Wahlkampf darum bat, die CDU zu wählen, damit sie vorn lande und den Regierungsauftrag habe.
Es gibt keinen Regierungsauftrag in einer parlamentarischen Demokratie. Es gibt nur Mehrheiten und die bilden sich üblicherweise durch Koalitionen. Eine CDU-geführte Koalition ist keinen Deut legitimer, wenn die CDU vor der AfD liegt, und keinen Deut weniger legitim, wenn es andersrum ausgehen sollte.
Ich kann Sie nicht davon abhalten, sich am Sonntag verrückt zu machen. Es wird dafür wahrscheinlich auch ein paar gute Gründe geben. Die Rangfolge der Parteien ist keiner davon. Immerhin.
Herzlich
Jonas Schaible