Wir sind nicht der kochende Frosch, wir kochen den Frosch
Das Artensterben geht weiter. Ein Hurrikan trifft einen Ort, der als überdurchschnittlich sicher galt. Und es kommt Bewegung in ein mögliches AfD-Verbotsverfahren.
Es muss einmal eine Zeit gegeben haben, in der fuhr man aufs Meer und mit hoher Wahrscheinlichkeit begegnete man einem Wal. In der ging man in den Wald, und man hörte einen Auerhahn.
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Die Gegenwart ist, alles in allem, besser als die Vergangenheit. In den meisten Belangen jedenfalls. Die Lebenserwartung steigt, die Kindersterblichkeit sinkt, die Luft ist besser. Der Wohlstand in so einem bundesdeutschen Leben ist viel höher als noch vor hundert Jahren. Es gibt Strom, Heizung, fließend Wasser, Internet, Essen im Überfluss, schnelle Züge und viele Bücher.
Ich weiß, dass es Belange geben muss, in denen das Leben heute schlechter ist als zu anderen Zeiten, alles andere wäre unplausibel, aber es fällt mir unglaublich schwer, mir das vorzustellen. Das ist gar kein Gegenwartsdünkel, eher eine Unfähigkeit, sich die Welt anders zu denken, als sie ist.
Es gibt eine Ausnahme.
Als mein Großvater jung war, schossen die Jäger die Rebhühner zu Tausenden. Als ich jung war, sah man noch ab und an ein paar der Vögel aus den Hecken und Rainen huschen. Seit ich studiert habe, bin ich keinem mehr begegnet.
Zunehmend wird mir klar, wie viel voller, reicher und lebendiger die Erde noch vor ein paar Jahrzehnten war.
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Die Zahlen stützen das: Der Bestand an Rebhühnern ging seit Gründung der Bundesrepublik um rund 90 Prozent zurück. Rückgang um 90 Prozent, das heißt: Es gab damals zehnmal so viele von ihnen wie heute.
Ähnliches gilt für so viele andere Arten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts soll es noch rund 340 000 Blauwale gegeben haben, heute sind bestenfalls noch 25 000 übrig. Der Bestand an Feldhasen ist seit den Achtzigern um rund drei Viertel zurückgegangen, der an Feldvögeln um mehr als die Hälfte.
Es ist also nicht nur ein Gefühl, dass man durch merkwürdig unbelebte Weiten wandert, wenn man in Brandenburg unterwegs ist, und über Kilometer auf den Feldern nichts sieht oder hört als Ringeltauben und Nebelkrähen.
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Wenn ich mir das bewusst mache, verstehe ich auf einmal, wieso Tiere so eine große Rolle spielen in Geschichten, Mythen, Fabeln, in der Heraldik. Sie waren einfach wirklich Bestandteil der Leben jenseits der großen Städte. Sie waren überall.
Die Welt war mal sehr viel lauter, bunter, quirliger, und das ist noch nicht so lange her. Zwei-, drei-, vier-, zehnmal so viele Tiere wie heute, je nach Art, was muss das für ein Getummel gewesen sein? Nicht irgendwann, in grauer Vorzeit, sondern als meine Urgroßmutter geboren wurde, als Kafka seine ersten Texte schrieb, als das erste Auto in Massenproduktion ging.
Dieser Tage hat eine Bestandsaufnahme Artenvielfalt für Deutschland ergeben: Die Mehrheit der verschiedenen Lebensraumtypen ist in einem schlechten Zustand. Ein Drittel der untersuchten Arten ist ernsthaft im Bestand gefährdet.
Man merkt das nicht so richtig, weil es schleichend geht. Was wir verloren haben, versteht man erst, wenn man nicht Jahr für Jahr vergleicht, sondern Jahrzehnt für Jahrzehnt, Jahrhundert für Jahrhundert.
Es ist wie mit dem metaphorischen Frosch, der im Kochtopf sitzt. Wirft man ihn in kochendes Wasser, springt er heraus. Erhitzt man das Wasser langsam, bleibt er drin. Nur dass wir nicht der Frosch im Topf sind, wie es gern heißt. Wir sind derjenige, der den Frosch langsam kocht.
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Natürlich gibt es Erfolgsgeschichten. Der Kolkrabe ist zurück in Deutschland, man sieht und hört ihn heute in allen Teilen des Landes. Als ich Kind war, war er fast nur noch ein Mythos. Seeadler sind wieder verbreitet. Biber breiten sich aus. Auch Buckelwale werden mehr.
Dort, wo der Mensch vor allem aufhören musste, zu jagen oder Gift in Flüsse zu leiten, hat der Artenschutz Erfolge. Dort, wo nicht Fallen, Gewehre und Giftköder die Tiere töten, sondern Pestizide, Zerstörung des Lebensraums, Stress durch Licht, Lärm, Abgase, da geht das Artensterben weiter.
Dort, wo Zerstörung nicht die direkte Konsequenz, sondern nur die Nebenfolge unseres Handelns ist, zerstören wir ohne Unterlass, beiläufig, gedankenlos.
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Man muss aber noch nicht mal ein besonderes Verhältnis zu Tiere haben, um diesen Verlust zu bedauern. Man muss nicht fasziniert davon sein, dass Hummeln in Experimenten die Fähigkeit gezeigt zu haben scheinen, logische Schlussfolgerungen zu treffen (wenn hier keine Belohnung ist, muss die Belohnung dort sein!).
Intakte Ökosysteme mit vielen Arten sind stabiler, die Böden sind fruchtbarer, die Wälder sind resistenter, die Erosion ist geringer, die Wasserhaltung höher, es wird mehr Kohlenstoff gebunden – die so genannten Ökosystemdienstleistungen für den Menschen fallen niedriger aus.
Artenschutz und Klimaschutz lassen sich nicht trennen. Nicht in die eine, nicht in die andere Richtung.
Das Öko-Institut kommt zum Ergebnis, dass der deutsche Wald wegen Schäden durch Trockenheit, Borkenkäfer und Feuer deutlich weniger CO₂ bindet, als bisher kalkuliert wird. Die genannte Größenordnung: 55-60 Millionen Tonnen im Jahr weniger als gedacht.
Zum Vergleich: Das kärgliche Maßnahmenpaket für den Verkehr, zu dem sich Bundesverkehrsminister Volker Wissing nach viel Kritik drängen ließ, soll bis 2030 gerade einmal 13 Millionen Tonnen an zusätzlichen Einsparungen zusammenkratzen – insgesamt über all diese Jahre.
In der Klimakrise gibt es Orte, die sind sicherer als andere. Aber es gibt keine Orte, die sicher sind.
In Asheville, North Carolina, dachte man, sei man sicher. Das Städtchen liegt auf mehr als 600 Meter Höhe in den Apalachen, rund 500 Kilometer vom Meer entfernt. Gleich mehrere Fernsehsendungen und Zeitungsberichte wurden jetzt herausgesucht, in denen die Stadt als Climate Haven beschrieben wird, als sicherer Ort vor den Schocks einer Welt im Umbruch.
In Asheville steht heute nicht mehr viel. Die Stadt wurde von einem Hurrikan vollständig zerstört, genauer: von den Regenmassen und Fluten, die Hurrikan Helene ins Land trieb. In Asheville sind wohl 300 bis 400 Liter auf den Quadratmeter gefallen, in anderen Orten bis zu 700 Litern in den vergangenen Tagen
Es gibt Videos, auf denen schwimmen Häuser davon. Es gibt Fotos, die zeigen Straßen, von denen fast nichts mehr übrig ist.
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Menschen sind gestorben, Häuser und Unternehmen zerstört, die unmittelbaren Auswirkungen werden immens sein. Der materielle Schaden wird aktuell auf rund 35 Milliarden Dollar geschätzt.
Dazu kommen Auswirkungen, an die man unmittelbar gar nicht denkt.
Es wird befürchtet, dass Wahlzettel verschwunden sind. Wer weiß, ob alle Wähler*innen regulär und wie geplant an der Präsidentschaftswahl teilnehmen können. Und was passiert, wenn danach die Ergebnisse angefochten werden. North Carolina ist ein Swing State, ein umkämpfter Staat, Harris und Trump könnten ihn beide gewinnen.
Aus dem Örtchen Spruce Pine, in dem besonders viel Regen niederging, kommt ein beträchtlicher Teil von ultrareinem Quarz, das für die Herstellung von Hochleistungschips gebraucht wird. Es gibt noch andere Produzenten, aber es handelt sich um einen Flaschenhals für die globale Highttech-Industrie.
»Alle führenden Halbleiterhersteller der Welt beziehen zumindest einen Teil ihres hochreinen Quarzes aus North Carolina«, sagte ein Branchenkenner meinem Kollegen Claus Hecking, der sich die Situation vor Ort angeschaut hat (+).
Derzeit gibt es keinen Strom, teilweise stehen Werke unter Wasser, Straßen und Bahngleise sind zerstört. Unklar, wann die Produktion wieder losgeht und ob die Auslieferung dann wie geplant funktioniert.
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In »Demokratie im Feuer« habe ich beschrieben, wie wir in den vergangenen Jahren neu zu erkennen begonnen haben, dass auch die Wirtschaft von dieser Welt ist. All die Waren bewegen sich wirklich über den Planeten, über Straßen, durch Tunnel, über Brücken, auf Wasserstraßen, und selbst die digitale Welt beruht auf Quarz, Chips, Kabeln und Rechenzentren.
All das kann kaputtgehen und es geht zunehmend kaputt. Die Dinge, die wir geschaffen haben, haben wir für eine Welt geschaffen, die es nicht mehr gibt.
Produzenten haben Vorräte angelegt, die Minen in Spruce Pine werden wieder ausliefern, irgendwann, erst wenig, dann mehr. Die Systeme sind widerstandsfähig, bis sie es nicht mehr sind.
Schon jetzt sammeln sich Schäden und Verluste an. Schon jetzt verändert sich etwas. Man merkt auch das gar nicht so richtig. Es ist, als würde man Fahrrad fahren, und plötzlich steigt die Straße leicht an, aber so leicht, dass man es zunächst gar nicht sieht. Man denkt, man fährt in der Ebene, wie bisher, aber man wird kaum merklich langsamer. Um das Tempo zu halten, muss man mehr Kraft einsetzen.
Egal, wie sich die Emissionen entwickeln, bis 2050 muss die Welt mit einem Einkommensverlust von rund einem Fünftel rechnen, verglichen mit einem Szenario ohne menschengemachte Erderwärmung, ergab eine Studie aus diesem Jahr.
Schon jetzt verschieben die sich Wanderungsmuster in den USA. Noch immer sind die warmen, sonnigen, auch die küstennahen Gegenden beliebt. Phoenix, Arizona, jene Stadt, die gerade mehr als 100 Tage am Stück mit mindestens 100 Grad Fahrenheit (37,8 Grad Celsius) erlebt, boomt. Aber der Strom in die Sonne wird schwächer.
Die Klimakrise ist nicht die Zukunft, sie ist unsere Gegenwart. Und die Straße wird ständig steiler.
Innenpolitisch ist Bewegung in einen Prozess gekommen, der uns eine ganze Weile beschäftigen wird. Eine Gruppe von Bundestagsabgeordnenten um den CDU-Politiker (+) Marco Wanderwitz hat einen Antrag fertig geschrieben, der am Anfang eines AfD-Verbots stehen soll (+).
Dabei sind bisher Vertreter*innen von CDU, SPD, den Grünen und der Linken, es sind genug, um den Antrag einzubringen. Zunächst soll er in den Fraktionen diskutiert werden, dann müsste er eine Mehrheit im Bundestag finden. Dann würde der Bundestag beim Bundesverfassungsgericht ein Verbotsverfahren beantragen.
An dessen Ende, nach vermutlich mehreren Jahren, könnte ein Verbot der AfD stehen oder vielleicht auch das Verbot einzelner Landesverbände und ein Entzug der Parteienfinanzierung.
Die Zweifel sind groß, in der FDP, der Union, aber auch den anderen Parteien und unter Expert*innen. Wie es weitergeht, wird wohl davon abhängen, ob der Verfassungsschutz die Partei als Ganzes hochstuft. Auch davon, wie die Debatte weiterläuft.
Was auffällt: Die Zweifel beziehen sich selten auf den Kern des Anliegens, auf den Charakter der AfD. Es geht eher um die Sorge, was passiert, sollte das Verfahren scheitern, weil sich nicht immer leicht gerichtsfest belegen lässt, was leicht zu erkennen ist.
Diese Sorge ist berechtigt und alle Eventualitäten sind zu prüfen. Was mich aber verwundert, ist die Selbstverständlichkeit, mit der so viele davon auszugehen scheinen, dass ein Verfahren scheitern würde.
Die Sache ist zu ernst, um sie leichtfertig anzugehen (was die Gruppe nicht tut). Sie ist aber auch zu ernst, um voreilig das Handtuch zu schmeißen, während, siehe letzte Woche, die extreme Rechte ihr Handtuch weiter ausbreitet.
Herzlich
Jonas Schaible