Das Klimaziel zu verschieben, ist keine Lösung
Der Nutzen wäre klein. Der Schaden möglicherweise gigantisch.
Nun hat sich also auch noch der Kanzler angeschlossen. Auch er hat, ein bisschen verklausuliert natürlich, aber eben nur ein bisschen verklausuliert, gesagt: Ob das mit den Klimazielen so hinhaut …
Vorausgegangen waren folgende Sätze der Ministerin für Wirtschaft und Energie, Katherina Reiche, ausgesprochen auf dem Tag der Industrie: “Wir müssen flexibler werden. Wir haben sehr starre Ziele in Bezug auf 30, 351. Wir haben uns selbst das Ziel gesetzt 2045. Paris2 sagt 2050.“
Und weiter:
„Ja, die Bundesregierung, frühere, haben Ziele – ich weiß nicht, ob man das sich vorher tatsächlich immer durchgerechnet hat, nach vorn verschoben und das Ambitionsniveau noch einmal nach oben geschraubt. Und ich glaube eine Harmonisierung mit internationalen Zielen täte gut.“
Sie sagte zwar auch, das sei politisch in der Koalition nicht vereinbart, aber man müsse schauen, “was ist in welchen Zeiträumen machbar zu welchem Preis”.
Man musste das so verstehen: Das aktuelle Ziel ist nicht machbar. Oder zu teuer. Das Ziel, Deutschland bis 2045 klimaneutral zu machen, ist nicht zu schaffen. Wir brauchen mehr Zeit.
Darauf wurde Friedrich Merz von Sandra Maischberger angesprochen und er antwortete zustimmend, Reiches Sätze hätten etwas »mit der realistischen Einschätzung dessen zu tun, was wir tatsächlich erreichen können«
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Seit etwa einem Jahr wird diese Debatte vernehmlicher und immer prominenter geführt. Die FDP zog mit dieser Forderung in den Wahlkampf: das Netto-null-Ziel von 2045 auf 2050 zu verschieben. Dann soll die EU als Ganze netto keine Treibhausgase mehr ausstoßen. Deutschland hat sich selbst verpflichtet, fünf Jahre schneller zu sein.
Industrievertreter haben das auch schon gefordert und ich wurde auch privat schon ab und an gefragt, ob es stimme. Ob es stimme, dass Deutschland schneller CO₂-neutral werden wolle als die EU? Und ob das einen Nutzen fürs Klima habe?
Ich habe das im Winter schon mal ausführlich erklärt (+), als die FDP damit kam, aber man muss es vermutlich noch häufiger erklären. Was hat es mit all dem auf sich?
Oder, anders formuliert: Warum ist die Forderung, die sich nun sogar der Kanzler ein bisschen zu eigen zu machen scheint, Quatsch und doch gefährlich?
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1 Die Wirtschaft hätte nichts davon
Kleiner Test: Woran denken Sie, wenn Sie an Klimaschutz denken und an Dinge, die noch etwas Zeit brauchen? An Fabriken vielleicht? Stahlhütten? Gaskraftwerke? Kohlemeiler? Chemiekonzerne?
Niemand davon würde irgendetwas gewinnen, wenn die deutsche Klimaneutralität auf 2050 verschoben würde.
Denn Energieerzeugung und Industrie, also alles von Gaskraftwerken bis zu Autoherstellern, unterliegt dem Europäischen Emissionshandel, kurz ETS (oder ETS1, denn ein zweiter unter anderem für Verkehr und Heizen soll in zwei Jahren in Kraft treten).
Jede Fabrik und jedes Kraftwerk muss also für jede Tonne CO₂ ein Zertifikat kaufen. Das ist teuer und es wird immer teurer, weil die Menge der Zertifikate sinkt. So entsteht ein europaweiter Markt. Das System gibt es seit etwa 20 Jahren, es ist vielleicht der Kern der EU-Klimapolitik.
Dieser Emissionshandel läuft irgendwann auf null. Dann gibt es keine neuen Zertifikate mehr und die alten werden ganz oder fast ganz aufgebraucht sein. Dann ist Schicht im Schacht mit Treibhausgasen, in der ganzen EU, jedenfalls in den betroffenen Sektoren.
Die EU-Kommission geht davon aus, dass es schon 2039 so weit sein dürfte. Eventuell dauert es ein, zwei Jahre länger. Aber nicht sehr viel länger.
Ganz sicher müssen deutsche Unternehmen schon vor 2045 klimaneutral sein. Unabhängig vom deutschen Klimaziel. Wegen der EU.
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2 Deutschland ist auch für 2050 noch zu langsam
Und selbst wenn es anders wäre, wäre kein Raum für Gelassenheit. Es ist ja nicht so, als wären 2045 noch ein paar Emissionen zu viel zu erwarten, 2050 dann aber keine mehr.
Tatsächlich sind aktuell, nach dem jüngsten Projektionsbericht, im Jahr 2045 im optimistischsten Szenario noch rund 184 Millionen Tonnen CO₂ zu erwarten. Das sind rund 28 Prozent der aktuellen Emissionen. Obwohl eigentlich die Null stehen muss. Fünf Jahre später sind es noch immer 164 Millionen Tonnen.
Ein relevanter Teil kommt aus Industrie.
Das ist nur logisch: Es sind nicht viele Maßnahmen geplant, die dann noch wirken könnten. Was sollte also wirken?
Ganz sicher muss Deutschland also mehr tun als heute, um auch nur 2050 bei Null zu sein. Nicht weniger. Auch die Wirtschaft.
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3 Auch Autofahrer und Hausbesitzer hätten nichts davon
Worum geht es dann überhaupt nach 2045 noch?
Der ETS1 ist dann längst auf Null. Der geplante Emissionshandel 2 dann nach Plan schon lange in Kraft.
In diesem zweiten ETS, der 2027 starten soll, werden unter anderem Verkehr und Heizen geregelt. Dann müssen Unternehmen, die Heizöl oder Sprit verkaufen, genauso Zertifikate nachweisen, wie das jetzt schon Kraftwerke und Fabriken tun. Zusammen decken ETS1 und ETS2 zwischen 80 und 90 Prozent aller EU-Emissionen ab.
Der ETS2 soll nach einer Aufschlüsselung, die ich kenne, ebenfalls bis 2045 auf Null laufen. Auch Autofahrer und Hausbesitzer hätten also nichts von einer Verschiebung.
Was dann noch übrig bleibt, das sind ein paar schwer zu reduzierende Reste, vor allem in Landwirtschaft und Landnutzung. Also Emissionen aus Tierhaltung, Düngung, aus trocken gelegten Moorböden, auf denen jetzt Kühe grasen. Das ist der Rest, der nach 2045 noch EU-weit weggearbeitet werden soll. Eben: ein sehr spezifischer Rest.
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4 Für das Klima wäre es schädlich
Für diese Restemissionen gilt: Was Deutschland einspart, spart Deutschland ein. Weg ist weg.
Im Emissionshandel ist es anders, da gilt: Die Mengen, die erlaubt sind, werden wahrscheinlich auch verbraucht. Wenn ein Land einspart, kann ein anderes mehr ausstoßen. Wenn Finnland schneller ist, kann sich Polen mehr Zeit lassen. Fürs Klima ist egal, ob eine Tonne CO₂ aus Finnland oder Polen oder Deutschland kommt.
Es gibt allerdings Gründe, warum ein Land in einem Bereich schneller oder langsamer ist. Das ist ja genau die Idee: Wer billiger einsparen kann, spart zuerst ein. Wer noch nicht kann, kauft sich Zertifikate, also Zeit. So soll es funktionieren. Bestenfalls ist das im Ergebnis dann für alle am günstigsten.
Noch einmal: Für die Restemissionen nach 2045 gilt das nicht. Die sind nicht Teil des Emissionshandelns, sie sind nicht linke Tasche, rechte Tasche. Wenn Deutschland sich fünf Jahre mehr Zeit lässt, dann schadet das dem Klima. Nicht extrem, weil die Mengen nicht mehr gigantisch sind, Stand heute. Aber eben ohne wenn und aber.
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5 Das gesamte EU-System wäre gefährdet
Der eigentliche Schaden wäre aber politisch. Wenn das große, einflussreiche Deutschland sein Klimaziel aufweicht, dann wird es wahrscheinlicher, dass andere Staaten das auch tun.
Sie könnten sagen: Deutschland schafft es nicht. Dann schaffen wir es auch nicht.
Oben ging es viel um die beiden Emissionshandelssysteme. Sie geben den strengen Deckel für den Großteil der Emissionen vor. Aber natürlich kann man den Deckel politisch anheben. Gerade der ETS2, weil er erst eingeführt werden soll, ist extrem gefährdet. Viele Menschen, mit denen ich spreche, machen sich große Sorgen, dass er außer Kraft gesetzt werden könnte, kurz nachdem er gestartet ist. Oder dass er vielleicht nie startet. Dazu ein andermal mehr. Auch den ETS1 könnte man weniger streng gestalten.
Wenn aber der Emissionshandel wackelt, dann wackelt die gesamte EU-Klimaschutzarchitektur. Und was wackelt, kann leicht einstürzen.
Wer die Debatte über die Klimaneutralität 2045 führt, nimmt in Kauf, dass der ganze EU-Klimaschutz Schaden nimmt. Unbewusst oder absichtlich.
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In Kürze zusammengefasst:
Die Industrie hätte nichts davon, wenn Deutschland erst 2050 klimaneutral werden soll, statt wie bisher geplant 2045.
Autofahrer und Hausbesitzer hätten nichts davon.
Am Energiesystem würde sich auch nichts ändern.
Für das Klima wäre es schlecht.
Andere EU-Staaten bekämen dadurch nicht mehr Zeit auf deutsche Kosten.
Und der EU-Klimaschutz geriete in Gefahr.
Es ist eine absolute Scheindebatte. Mit einer gewissen Restwahrscheinlichkeit, dass sie zur Katastrophe führt.
Ich habe meine Sicht auf die Klimapolitik diese Woche in einem Leitartikel (+) beschrieben:
“Da ist nichts, kein wahrnehmbares Krisenbewusstsein, kein Maßnahmenplan, noch nicht einmal ein Lippenbekenntnis.
Keine Bundesregierung war bisher schnell genug darin, den Weg in die Klimaneutralität und damit in eine halbwegs stabilisierte Zukunft zu gehen. Und weil in der Klimakrise nichts so rar ist wie Zeit, führen zu langsame Schritte nicht ans Ziel. Aber Angela Merkel und Olaf Scholz haben zumindest versucht, in die richtige Richtung zu gehen.
Im Kabinett Merz sieht das anders aus. Da sind derzeit mehr Schritte in die falsche Richtung zu erkennen als in die richtige.
(...)
Ohne neue Gaskraftwerke geht es nicht, aber warum müssen es so viele sein, wie die neue Koalition anpeilt? Union und SPD wollen künftig auch Elektro-Dienstwagen steuerlich fördern, die zwischen 70.000 und 100.000 Euro kosten. Das freut Gutverdiener und deutsche Premiumhersteller. Aber wie will die Koalition erreichen, dass sich die Masse der Bürger E-Autos leisten kann? Wie sollen auf lange Sicht die Emissionen durchs Heizen, Autofahren und durch Landnutzung sinken?
Ach ja, und wie positioniert sich Deutschland in einer Welt, in der China eine Zukunftstechnologie nach der nächsten perfektioniert, E-Autos mit ultrakurzer Ladezeit, großer Reichweite und für weniger als 10.000 Dollar baut, während die USA demonstrativ auf Öl und Gas setzen?
Alles Fragen, die völlig offen sind. Fragen, auf die eine Regierung eigentlich eine Antwort geben müsste. Und zwar eine, die nicht nur lautet: Wir haben es nicht versucht und dabei festgestellt, dass es nicht geht.”
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Einen ähnlichen Impuls hatten offensichtlich Petra Pinzler und Bernd Ulrich in der Zeit (Geschenklink). Sie schreiben:
“Nach gut acht Wochen des Regierens, nach unzähligen Ministerinnen-Äußerungen, nachdem der neue Finanzminister seinen ersten Haushalt vorgelegt hat und die ersten Gesetze vom Kabinett verabschiedet wurden, zeichnet sich ab, wo der Hase hinläuft – falls da überhaupt noch ein Hase ist. Um es vorwegzunehmen: Ändert sich die Politik nicht noch dramatisch, und danach sieht es nicht aus, wird dies die ökologiefeindlichste Regierung seit zwei Jahrzehnten.”
Wir wissen nicht, ob da künftig noch ein Hase ist. Was wir wissen: Zecken werden da sein.
In den USA wird es wärmer und wie der Guardian berichtet, breitet sich deshalb Amblyomma americanum aus, eine Zeckenart. Alle Zecken sind hochgradig unerfreulich, diese Art ist besonders unerfreulich, weil sie nicht einfach im Gras sitzt und wartet, sondern Tiere und Menschen verfolgt. (How dare you?)
Außerdem löst unter anderem diese Zeckenart etwas aus, das umgangssprachlich treffend als Fleischallergie bezeichnet wird.
Wenn ich das richtig verstanden habe, dann reagiert der Körper dabei auf ein Kohlenhydrat namens Galaktose-alpha-1,3-Galaktose (kurz: Alpha-Gal), das im Körper fast aller Säugetiere vorkommt, aber nicht beim Menschen. Wenn es über einen Zeckenstich ins menschliche Blut gelangt, kann der Körper einen Abwehrmechanismus entwickeln. Betroffene reagieren von da an auf Säugetierfleisch und Milchprodukte. Dagegen dann hilft dann nur noch: Veganismus.
Vor ein paar Jahren gab es kaum bekannte Fälle. Nun berichtet die US-Behörde CDC von Zehntausenden Verdachtsfällen, der Guardian schreibt, es könnten schon mehr als 400.000 sein. Und die Zecken verbreiten sich offenbar seit einer Weile extrem zügig
Was natürlich ironisch ist, weil Fleischkonsum wegen der direkten Emissionen, vor allem aber wegen des Flächenbedarfs eine sehr, sehr entscheidende Quelle von Treibhausgasen ist. Aus Klimagründen Fleisch zu reduzieren, das ist gesamtgesellschaftlich gesehen unausweichlich, aber politisch heikel.
Offenbar kann es passieren, dass die Klimakrise selbst indirekt dazu zwingt.
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Und weil nichts auf dieser Welt mit Zecken enden sollte, hier noch etwas über possierliche Mäuse. Ich las im New Scientist die Tage von einer Studie, die im Februar erschienen ist. Darin wird beschrieben, wie Mäuse auf andere Mäuse reagieren, die bewusstlos neben ihnen im Käfig liegen.
Sie beginnen nämlich sehr oft, intensiv mit der schlappen Maus zu interagieren. Sie lecken die Augen oder den Mund und öffnen ihn häufig sogar, um die Zunge herauszuziehen. Wenn der bewusstlosen Maus ein kleiner Plastikball in den Mund gesteckt worden war, zogen ihn die sich kümmernden Mäuse in achtzig Prozent der Fälle heraus.
Anders gesagt: Sie kümmerten sich. Man könnte sogar sagen: Es sah aus, als versuchten sie sich an Reanimation. Die Mäuse, denen solche Sorge zuteil wurde, wachten schneller auf und fingen schneller wieder an, zu laufen.
Das ist doch ein schönes Ergebnis.
Kümmern Sie sich, um sich und andere. Es ändert etwas.
Herzlich
Jonas Schaible
Gemeint sind 2030 und 2035, wobei das streng genommen nicht stimmt. Es gibt zwar jahresscharfe Ziele, aber das für 2035 ist, ebenso wie das für 2034 oder 2036, nicht gleichermaßen hart im Gesetz wie das Ziel für 2030 oder für 2050.
Gemeint ist offensichtlich die EU. Das Pariser Klimaabkommen gibt kein Jahr vor, in dem Klimaneutralität erreicht sein muss.
morgen,morgen, nur nicht heute. Bis das morgen ausgelöscht ist. Das Kapital kennt kein Morgen denn langfristig sind wir alle tot.