Der Kulturkampf frisst den Kanzler
Jetzt verweigern ihm schon die eigenen Leute die Gefolgschaft
Eine dieser Fragen, die meine Zunft gerade gern stellt, lautet: Ampelt es schon in der neuen Koalition? Also, beginnt es schon mit dem Streit, dem ewigen Streit, der alles überlagert? Aber ich glaube, die Frage führt auf ein Nebengleis.
Die Konflikte jetzt sind anderer Art, als sie während der Ampel waren. Damals positionierten sich die meiste Zeit die Führungsfiguren gegeneinander: Scholz, Habeck, Lindner, in wechselnden Konstellationen. Auch mal Baerbock gegen Scholz. Oder immerhin Paus gegen Lindner.
So war es nicht immer und natürlich fanden die Abgeordneten oft furchtbar, was ihre Chefs taten. Natürlich ließ sich Christian Lindner ab und an auch treiben vom rechten Flügel seiner FDP. Es war trotzdem das Muster: Der Konflikt durchzog alle Ebenen, von unten nach oben.
Jetzt waren sich wiederholt die Spitzen völlig einig. Bei der Kanzlerwahl selbst. Bei der Senkung der Stromsteuer für alle. Oder nun bei der Wahl von Verfassungsrichter*innen. Sogar der CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann verteidigte Frauke Brosius-Gersdorf öffentlich.
Es half nichts. Der erste Wahlgang der Kanzlerwahl ging schief. Die halbe Stromsteuersenkung ließ fast die gesamte Union protestieren. Die Unionsführung bekam ihre Leute nicht dazu, eine Juristin zur Richterin zu wählen, die sie selbst als wählbar und fähig beschrieb.
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Was da sichtbar wird, ist erst einmal also ein Konflikt zwischen Führung und Partei, in der Union wie in der SPD. Da und dort sehen sie unterschiedlich aus, aber da und dort geben die Chefs den Weg vor und die, die ihnen folgen sollen, setzen sich auf den Boden und sagen: nö.
Besonders spektakulär ist das im Fall der CDU, weil die eigentlich noch im größten Zwist eisern Einigkeit performen kann. Sie kann eine Wagenburg formen (und zeigt das, wenn es darum geht, Jens Spahn zu verteidigen). Sie schätzt die Loyalität nach außen, weil die Einfluss sichert. Sie ist keine Partei von Revoluzzern, die hier stehen und nicht anders können, sondern eine Machtmaschine. Darauf war sie immer stolz.
Jetzt, man muss sich das vorstellen, stand der Bundeskanzler (der Bundeskanzler!) und Parteichef (Parteichef!) vergangene Woche im Bundestag und antwortete auf die provokante Frage einer AfD-Abgeordneten, ob er es mit seinem Gewissen vereinbaren könne, Brosius-Gersdorf zu wählen, mit: Ja.
In der scholzschen Kürze blieb ungesagt, dass Friedrich Merz natürlich wollte, dass alle es ihm gleichtun, aber verstanden wurde es auch so. Die Unions-Abgeordneten hörten es und zuckten mit den Schultern. Soll er doch reden, der Kanzler.
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Sie entschieden sich gegen Kanzler und Parteichef, gegen den Fraktionsvorsitzenden und seine Stellvertreter, gegen das ganze Partei-Establishment und die Koalitionsdisziplin und für das Zeichen, die große Geste, den Aufstand.
Sie entschieden sich damit für Scharnierkommunikatoren aus dem extrem rechten Raum und deren Kampagne.
Vor allem aber entschieden sie sich, so deute ich das in diesen ersten Tagen danach jedenfalls, für das, was Merz mittlerweile durch die Deklaration einer “Gewissensfrage” geadelt hat: ihre infrage gestellte Identität. Ob nun als gläubige Katholik*innen, als Abtreibungsgegner*innen, als nichts links oder was auch immer.
Wenn das so ist, dann entschieden sie sich für: Kulturkampf.
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Ich weiß, dass das Wort viel benutzt wird und manch einer und eine damit ihre Schwierigkeiten haben. Aber ich finde es immer noch sehr nützlich, in einem spezifischen Sinne.
Für mich ist Kulturkampf, wenn politische Fragen gezielt und absichtsvoll in Anerkennungsfragen verwandelt werden.
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Zu unterscheiden ist Kulturkampf von Fragen, bei denen es unweigerlich um Anerkennungsfragen geht, weil sie alles sind, das verhandelt wird: Erkennt der Staat an, dass Trans*Menschen existieren? Erkennt er an, dass Schwarze gleiche Rechte haben? Klassische Fragen von Emanzipation und Gleichstellung fallen in diese Kategorie: Wer gilt (mindestens und zuerst dem Staat) als Mensch und was heißt das?
Allerdings sind solche Anliegen besonders geeignet, um in den Kulturkampf gezogen zu werden, weil sie gewissermaßen schon die richtige Form haben. Man muss sie nicht in Anerkennungsfragen verwandeln, sie sind es schon. Wer sie politisiert, der erschafft sofort einen einigermaßen unversöhnlichen Konflikt.
Nicht ohne Grund gehören Trans*-Rechte zu den wichtigsten Kulturkampfthemen, das Verhältnis der Geschlechter insgesamt.
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Kulturkampf ist, wenn man nicht über Verbrennungsmotoren sprechen will, sondern ausschließlich über das Auto als Chiffre für das Leben auf dem Land, das Städter*innen nicht verstehen. Nicht über die ökologischen Folgen von Fleischkonsum, sondern über die Wurst als Kraftriegel der Arbeiterklasse, den die Körnerfresser nicht begreifen. Nicht über die Versiegelung von Boden, sondern über das Einfamilienhaus als Lebenstraum.
Identität, Träume, Wertschätzung spielen eine Rolle, man kann und sollte sie nicht aus der Politik vertreiben wollen. Sie erlauben es nur nicht, zu verhandeln. Sie sind an und für sich nicht kompromisstauglich. Wer Kulturkampf betreibt, wiegelt also auf, macht Kompromiss immer schwerer.
Solange es noch um anderes geht als nur Anerkennungsfragen, kann man dagegen Pakete schnüren, das eine zugestehen, um das andere zu bekommen.
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Man könnte zum Beispiel sagen, so wie es versucht wurde: Wir als Union wählen die Richterin, ihr habt neulich auch beim Familiennachzug mitgemacht, aber vielleicht wird sie nicht Vizepräsidentin des Gerichts? Und wir schauen beim nächsten Mal, was ihr dafür bekommt.
Aber wenn man im Kulturkampf ist, dann wird nicht mehr gedealt. Dann geht es ums Prinzip oder die Ehre oder die eigene Identität. Anerkennung gibt es nicht graduell.
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In so einem Fall (und eigentlich nur in so einem Fall) lässt man dann offenbar sogar als Christdemokrat seinen eigenen Kanzler auflaufen, wegen einer Juristin, deren Positionen offensiv falsch dargestellt wurden, nicht von allen, aber von manchen Akteuren, einer SPD-Kandidatin, die vielen Linken als zu neoliberal gilt.
Es ist ein ziemlich unerhörter Vorgang, auch wenn der Anlass an sich eher klein ist. Oder vielleicht gerade deshalb. Der Führung der CDU, selbst einer Sehnsuchtsfigur der Parteikonservativen wie Merz, scheint da etwas entglitten zu sein. Die Frage ist, ob auf Dauer.
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Vor diesem Hintergrund blicke ich noch einmal anders auf die Vorgänge im Bundestag, wo Bundestagspräsidentin Julia Klöckner vor einer Weile mehrere Entscheidungen traf, die heftige Kontroversen auslösten.
Sie entschied, die Regenboggenflagge noch am internationalen Tag gegen Queerfeindlichkeit auf dem Bundestag wegen zu lassen, aber nicht mehr in der Berliner Pride Week. Sie entschied auch, dass Mitarbeiter*innen der Verwaltung auf dem Christopher Street Day nicht mehr als Mitarbeiter*innen auftreten und werben dürfen. Sie begründete beides mit der Neutralität der Bundestagsverwaltung.
Ich habe darüber geschrieben (+) und in einem Podcast gesprochen, hier also nur kurz: Die Argumente Klöckners sind an sich nicht unplausibel. Natürlich stehen die Handlungen aber in einem Kontext, zunehmende Angriffe gegen Pride-Veranstaltungen zum Beispiel, und man konnte wissen, was passieren würde.
Diejenigen, die durch ihre Entscheidungen (verständlicherweise) die Anerkennung entzogen sahen, reagierten. Und wie reagiert man in solchen Fällen? Man setzt Zeichen. Die Grünen-Abgeordneten setzten sich in Kleidung ins Plenum, die einen Regenbogen ergaben.
Einige Abgeordnete hängten wohl extra Regenbogenflaggen auf, so wie ich das verstehe. Jemand meldete das bei der Verwaltung, so weit ich das verstanden habe. Die legte nach, ließ sie mit Verweis auf die Hausordnung abhängen. Offensichtlich standen auch Bundestagspolizist*innen in einigen Büros.
Es würde mich wundern, wenn es darauf keine Reaktionen mehr geben wird. Anerkennungskonflikte eskalieren leicht und weil sie sich so schwer ausverhandeln lassen, enden sie üblicherweise nur, wenn eine Seite nachgibt. Das fällt aber schwer, wenn die andere Seite keine Zeichen des guten Willens sendet, sondern nachlegt.
Ich weiß nicht, ob Klöckner und die Bundestagsverwaltung bewusst eskalieren oder versehentlich, absichtsvoll oder unbeholfen, warum sie handelt, wie sie handelt. Was ich weiß, ist: Sie war der Auslöser und Verstärker eines Konflikts, der Identitäten herausfordert und Gräben vertieft und der wegen der Fragen, um die es geht, nur schwer zu befrieden ist.
Selbst wenn es kein Kulturkampf ist, mindestens ist es ein kulturkampffähiger Konflikt. Davon gibt es auch so schon genug.
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Auf Dauer reibt sich eine Gesellschaft im Kulturkampf unweigerlich wund. Demokratie funktioniert nur über Kompromisse. Die dürfen als Niederlage empfunden werden, aber nicht zu oft als Kränkung.
Ich habe vor einigen Monaten einen Essay darüber geschrieben, dass der Kulturkampf das Mittel von Leuten ist, deren eigentliches Ziel regime change ist, die Abschaffung der liberalen Demokratie. Das heißt nicht, dass alle, die Kulturkampf betreiben, dieses Ziel haben. Es heißt aber, dass es ein riskantes Mittel ist, politischen Konflikt zu führen.
Im Essay geht es darum, dass die große, die entscheidende Frage für die Union und diese Republik ist (+), ob sie sich im Streben, der Gesellschaft das Linke auszutreiben, gemein macht mit jenen Leuten, die Dunkleres im Schilde führen.
“Auf eine Formel gebracht: Eine erneuerte CDU für die Zwanzigerjahre gibt es nur als Kompromiss in demokratischer Verantwortung. Die heutige CDU plus die AfD ergibt dagegen nicht die CDU von früher. Sondern den J.D. Vance von heute.”
Und davor:
“Es braucht dazu keine großen Verrenkungen, keine Selbstverleugnung, schon gar keinen Linkskurs, nicht einmal eine Merkelisierung. Es braucht nur eine Entscheidung gegen den Kulturkampf.”
Das gilt alles nach wie vor. Seit dieser Woche frage ich mich nur, wer diese Entscheidung eigentlich gerade noch zu treffen imstande ist.
Eigentlich wollte ich diese Woche endlich über künstliche Intelligenz und Wahrheit schreiben, seit Wochen will ich das. Außerdem über die USA, wo sich ICE wie vor einiger Zeit vermutet als Instrument des Polizeistaats zu festigen scheint.
Stoff gibt es also genug für die nächsten Wochen. Aktuell war nur viel Deutungsbedarf in der Innenpolitik. Vielleicht wird es jetzt, wo das Parlament in die Sommerpause geht, ein bisschen ruhiger.
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In der Sommerpause hat die Regierung viel zu tun, sie will nämlich mit einer ambitionierten Reformagenda in den Herbst starten und auch in den eigenen Reihen fragen sich einige: Wo soll die auf einmal herkommen? Wir haben das diese Woche ausführlich beschrieben (+).
Wer noch mehr zur Richterwahl und den Folgen hören will: Ich war dazu zu Gast im “Apofika Presseclub”, den Markus Feldenkirchen moderiert. Den gibt es überall, wo es Podcasts gibt.
Wenn Sie am Dienstagabend noch nichts vorhaben und in Berlin sind: dann moderiere ich die Buchvorstellung von “Die Exponentialgesellschaft” des Soziologen Emanuel Deutschmann. Es geht darum, warum uns alles über den Kopf wächst und wie wir die Kurve kriegen (das Wortspiel geht auf den Autor, nicht auf mich.)
Und wenn sie einfach ein bisschen Zeit haben und der dringend nötige Regen irgendwann wieder nachlässt, halten sie doch abends draußen die Augen offen. Es gibt bekanntlich das Phänomen der Lichtverschmutzung: zu viel Licht, künstliches Licht aus Häusern, Straßenlaternen, Werbung und Autos.
Für Vögel, Fledermäuse, Pflanzen und Insekten ist Lichtverschmutzung eine ernste Gefahr. Uns versperrt sie nicht nur den Blick auf den Sternenhimmel, sie kann auch den Biorhythmus stören, Stress verursachen, und natürlich hat es Folgen für den Menschen, wenn Pflanzen und Tiere leiden.
Es gibt aber auch etwas, das man Lichtsäuberung nennen könnte. Licht, das sich nicht über alles ergießt, sondern das einen Moment nur ganz leicht poliert und zum Glänzen bringt.
Die absoluten Meister darin sind Glühwürmchen. Ich erinnere mich, wie fasziniert ich als Kind war, wenn sie im Juni anfingen, zu glimmen. In den vergangenen Wochen habe ich ein paar Mal welche gesehen.
Es ist egal, wann und wo, noch am einsamsten und dunkelsten Ort oder gerade dort: Sie stören die Dunkelheit nicht und machen sie doch ein bisschen heller.
Herzlich
Jonas Schaible
Sie stören die Dunkelheit nicht und machen sie doch ein bisschen heller. 🖤 (Und auch danke für den Rest des Textes)
Die CDU muss sich entscheiden, ob sie weiterhin eine christdemokratische Partei sein will. Die Gründungsidee war, dass die Partei weder konservativ noch rechts sein sollte. Sie wollte sich damit von den Konservativen der Weimarer Republik abgrenzen, die Steigbügelhalter für die NSDAP waren.
Die CDU muss deshalb eine Grundsatzdiskussion führen, die so bedeutend wäre wie das Godesberger Programm der SPD.