Ich stimme ja zu, aber der Nachbar eben nicht… (tut er doch!)
Wie wir die Wirtschaftskrise überschätzen und unsere Mitbürger sehr oft unterschätzen
In einer Woche wird in Thüringen und Sachsen gewählt. Natürlich treiben die Landtagswahlen alle um, die sich beruflich mit Politik befassen.1 Natürlich treiben sie auch alle um, die sich um die Demokratie sorgen.
Und so wird ausgeleuchtet, besucht, beschrieben und vermessen. Dabei bin ich auf eine Allensbach-Umfrage in der FAZ (+) gestoßen, in der manches interessant ist. Zum Beispiel, dass in Ostdeutschland 54 Prozent der Befragten sagen, wir leben nur scheinbar in einer Demokratie, die Menschen hätten in Wahrheit nichts zu sagen; zugleich sagen 60 Prozent, es brauche einen starken Politiker an der Spitze, keine endlosen Debatten.
Man kann diesen Widerspruch einigermaßen auflösen, wenn man annimmt, dass unter Demokratie kein System der organisierten Mitbestimmung verstanden wird. Sondern, dass viele glauben, Demokratie sei, wenn umgesetzt wird, was sie wollen. Weil das, was sie wollen, ja der Volkswille sein muss.
Ein wenig besorgniserregend ist er trotzdem, dieser Widerspruch.
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Und damit sind wir bei den Fragen, die mir noch stärker ins Auge fielen, weil der Widerspruch auch so eklatant ist. In Ostdeutschland sagen 32 Prozent, sie selbst fühlen sich als Bürger zweiter Klasse. Aber 59 Prozent sagen, Ostdeutsche fühlen sich als Bürger zweiter Klasse.
Da klafft also etwas sehr stark auseinander: die eigene Wirklichkeit, auch die eigene Gefühlslage – und die, die man den anderen zuschreibt. Offenbar hat sich eine bestimmte Idee verselbstständigt, eine Zuschreibung hat ein Eigenleben entwickelt.
Der Bürger zweiter Klasse, das ist in rund der Hälfte der Fälle der andere. Oder eben: eine Einbildung.
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Man sieht immer wieder, wie die eigene Wahrnehmung und die Wahrnehmung von kollektiven Phänomenen auseinanderfallen. In einem aktuellen Umfragedatensatz des Forschungsprojekts GLES etwa habe ich mir angeschaut, wie Menschen die eigene wirtschaftliche Lage bewerten und die wirtschaftliche Lage insgesamt.
Da sagen nur rund 15 Prozent, die wirtschaftliche Lage sei gut oder sehr gut, die Hälfte sagt, sie sei schlecht oder sehr schlecht. Dagegen sagen 37 Prozent, ihre eigene wirtschaftliche Lage sei (sehr) gut; nur ein Viertel findet sie (sehr) schlecht.
Natürlich kann es Abweichungen geben. Man würde sogar hoffen, dass Menschen die wirtschaftliche Lage nicht nur anhand der eigenen Erfahrungen bewerten. Aber man fragt sich doch, wo und wie sich die schlechte Lage bemerkbar und was sie ausmacht, wenn es das Leben der Menschen offenbar nicht ist.
Ich habe das nicht systematisch zurückverfolgt, aber die Kluft gibt es seit einer Weile. Im Dezember 2017 waren die Einschätzungen dagegen noch weitgehend identisch (66 Prozent fanden die eigene und die allgemeine wirtschaftliche Lage gut, sechs bzw. vier Prozent fanden sie schlecht).
Man sieht daran zweierlei: Die Pandemie, die Lieferkettenprobleme, vor allem aber der russische Angriff auf die Ukraine und die folgende Energiepreisexplosion hat Spuren hinterlassen. Aber sehr viele scheinen die Lage für dramatischer zu halten, als sie selbst sie wahrnehmen.
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Es gibt so etwas auch zu Klimaschutz: 49 Prozent sagen in einer Befragung, sie unterstützen Klimaschutzmaßnahmen stark, aber nur 31 Prozent sagen, die Deutschen unterstützten Klimaschutzmaßnahmen stark. Auch hier ist die Frage nicht eins zu eins identisch, aber man erkennt doch, dass sehr viele den anderen verblüffend wenig zutrauen.
Eine Studie aus den USA kommt zum Ergebnis, dass 80 bis 90 Prozent der Amerikaner die Unterstützung für Klimaschutz unterschätzen: »Unterstützer von Klimapolitik sind gegenüber Gegnern 2 zu 1 in der Mehrheit, wohingegen Amerikaner fälschlich glauben, dass fast das Gegenteil wahr ist.«
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Zu solchen verzerrten Wahrnehmungen und deren Folgen gibt es Regalmeter voll mit Forschung, aus den Sozialwissenschaften, aus der Psychologie und wer weiß aus welchen Disziplinen noch. Es handelt sich um ein sehr altes, sehr faszinierendes soziales Phänomen.
In Gesprächen mit Politikerinnen und Politikern erlebe ich immer wieder, dass sie auf Gespräche am Infostand verweisen, auf Zuschriften, auf Unterhaltungen im Wahlkreis. Sie müssen das natürlich tun. Erstens, weil sie nicht zu allem Umfragen in Auftrag geben können. Zweitens, weil man so ja wirklich wahnsinnig viel lernt über Stimmungen, Überzeugungen und Argumente.
Und oft, glaube ich, ist der Eindruck, den sie dabei gewinnen, gar nicht schlecht. Auch wenn in fast jedem Wahlkampf jemand dabei ist, der begeistert die gute Stimmung an den Wahlständen anführt, um kurz darauf ein fürchterliches Ergebnis einzufahren.
Umso faszinierender fand ich eine Studie, die in verschiedenen Ländern zeigte, dass Politiker*innen die Positionen der Wählerschaft systematisch falsch einschätzen, und zwar über Parteien und zumeist auch Themen hinweg. Offenbar gibt es so etwas wie eine geteilte Vorstellung über die Menschen da draußen in einer Gesellschaft, die sich auf Politiker*innen aller Lager auswirkt.
In den allermeisten Fällen hielten sie die Menschen für konservativer als sie sind – eine bemerkenswerte Ausnahme waren deutsche Politiker, die die Bevölkerung in Migrationsfragen für progressiver hielt, als sie ist.
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Deswegen sollte man zwar Umfragen gegenüber immer skeptisch sein, ihre Methodik und ihre Fragestellung genau prüfen, bevor man sie zu ernst nimmt. Aber man sollte erst recht skeptisch sein, wann immer jemand sich über die Stimmung da draußen auslässt, ohne auf eine Umfrage verweisen zu können. Stimmungen spürt man nicht einfach so raus.
Deswegen ist es ein Problem, wenn man X mit der Wirklichkeit verwechselt. Oder auch, wenn dort sich mittlerweile offensichtlich Bots und radikale Accounts daran machen, die Seite mit extrem rechter Propaganda zu fluten. Man muss dann schon intensiv dagegen anarbeiten, sich davon beeinflussen zu lassen.
Deswegen ist es ein Problem, wenn Menschen sich in politischen Diskussionen hinter dem verstecken, was andere angeblich wollen oder ablehnen. Es ziemt sich zwar für Staatsbürger*innen, sich in andere hineinzuversetzen. Aber demokratische Politik ist immer auch Interessenausgleich und der funktioniert viel besser, wenn Menschen auch ihre eigenen Interessen klar formulieren.
Deswegen ist es auch ein Problem, wenn Politik sich zu sehr darauf beschränkt, abzubilden, was die Mehrheit angeblich will. Tut sie das gar nicht, wird sie höchstwahrscheinlich Chaos anrichten (und abgewählt werden). Tut sie allerdings nichts anderes, bildet sie vermutlich vor allem Zerrbilder ab.
Und wenn man so ein Zerrbild abpinselt, womöglich unkonzentriert, kommen allzu oft Karikaturen heraus. Karikaturen von Mehrheiten, Karikaturen von Überzeugungen, und am besten noch Karikaturen der politischen Gegner, die man eines Irrtums beschuldigt.
Karikaturen, die in der politischen Debatte im Weg herumstehen, die Zähne blecken, Aufmerksamkeit auf sich ziehen und dabei zumeist nicht einmal lustig aussehen.
Besser wäre, wenigstens die Möglichkeit zu erwägen, dass man den Mitmenschen mehr zutrauen kann, als man es bisher getan hat.
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Falls Sie in Thüringen oder Sachsen wohnen und diesen politischen Newsletter hier lesen, vertraue ich zum Beispiel darauf, dass Sie nicht vergessen, am 1. September wählen zu gehen.
Herzlich
Jonas Schaible
Ich habe vergangene Woche etwa Sachsen-Anhalts CDU-Ministerpräsidenten interviewt, der unter anderem den bemerkenswerten Satz sagt: »Umziehen will ich nicht mehr, aber ich will auch nicht in einem Land leben, in dem die AfD an der Macht ist.« Aber der auch nicht ganz erklären kann, wie die Brandmauer, die er so glaubhaft verteidigt, halten soll, wenn in den Kommunen zu viele Löcher hineinbohren. Hier der Link (+). Und hier ein Geschenklink, der zehnmal geöffnet werden kann, auch wenn man kein Abo hat.