Wenn das Handtuch der extremen Rechten den Liegestuhl am Pool blockiert
Die entscheidende Frage ist nicht, warum etwas geschehen konnte. Die Frage ist, warum etwas zuvor nicht geschehen ist.
In dieser Woche ist bei den Grünen wahnsinnig viel umgebrochen. Der Vorstand ist zurückgetreten, die Parteivorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour machen Platz. Dann erklärte auch noch der Vorstand der Grünen Jugend den Parteiaustritt, lang vorbereitet. Konnte gut sein, dass sie sich der Linken anschließen, aber sicher ist das wohl noch nicht.
Gut drei Jahre habe ich intensiv über die Grünen geschrieben. Die meiste Zeit über war viel Ruhe in der Partei. Jetzt bricht etwas auf.
Was ich so bemerkenswert finde: wie hilflos die Partei wirkt.
Über Jahre war ihr Erfolgsrezept, dass sie sich nicht über konkrete Inhalte definierte, sondern über eine Methode. Möglichst vernünftig sein, eigene Überzeugungen über Bord werfen, wenn nötig, sich auch etwas zumuten. »Unsere Ideologie heißt Wirklichkeit«, so hat Robert Habeck das mal formuliert.
Ein Nebeneffekt: Grüne ruhten meistens in sich. Sie konnten alle Wendungen und Entscheidungen gelassen erklären, ohne Sprechzettel und ohne Kokolores zu erzählen.
Damit ist es vorbei. Die Methode wurde unwirksam gemacht vom simpelsten aller denkbaren Konter: Die anderen erzählen schlicht bei jeder Gelegenheit, die Grünen seien Ideologen, verschlössen sich der Realität, blockierten alle vernünftigen Entscheidungen. Das ist bemerkenswert effektiv.
Der Anteil der Menschen, der sich partout nicht vorstellen kann, eine Partei zu wählen, war für die etablierten demokratischen Parteien bis vor Kurzem sehr ähnlich und ziemlich konstant – auch für SPD und FDP in den Ampel-Jahren. Die kategorischen Grünen-Gegner werden dagegen ungewöhnlich schnell mehr.
Darauf hat die Partei keine Antwort gefunden. Habeck versucht es jetzt damit, noch pragmatischer zu werden, aber wenn man ihm in den Fernsehnachrichten zugehört hat oder Umweltministerin Steffi Lemke in dem Interview liest, das sie mir gegeben hat (+), dann sieht man: Das wird wohl nicht helfen.
Die Gelassenheit ist weg, die Erklärungen passen nicht zusammen, beide verstricken sich in Widersprüche. Robert Pausch hat das in der Zeit sehr treffend beschrieben (+).
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Gesellschaftspolitisch interessant ist daran, dass da gerade etwas Bewegung in das linke Lager kommt. Nach fast einem Jahr, das von zwei Aufwallungen einer Anti-Migrations-Debatte bestimmt war.
Teile der Grünen Jugend haben das Gefühl, sie müssten jetzt etwas ändern. Teile des linken Flügels der Partei auch. Die Partei die Linke versucht es mit neuem Spitzenpersonal. Und in der SPD gibt es die Initiative »Eintreten für Würde«, die ihre Partei zu einer anderen Haltung in der Migrationspolitik auffordert – zu einem klareren Bekenntnis zu Menschenrechten, Antirassismus, dem Recht auf Schutz.
Groß ist das noch nicht, aber es ist doch interessant, dass sich Frust mitunter im gleichen Moment an mehreren Orten seinen Weg bahnt. Womöglich ein Zeichen, dass die Bereitschaft des linken Lagers vorbei ist, fast alles mitzumachen, aus Sorge, dem Zeitgeist einen Schrecken einzujagen.
Was man der Grafik oben auch ablesen kann: Der Anteil kategorischer AfD-Gegner lag jahrelang zwischen 70 und 80 Prozent. Er ist deutlich gefallen, auf etwas mehr als 50 Prozent.
Vergangene Woche erst habe ich hier über den Schutz der Tabus geschrieben, der verloren geht und Gesellschaften verwundbar zurücklässt.
Wir fragen oft, warum etwas geschehen konnte. Aber das ist vielleicht gar nicht immer die erhellendste Frage. In der Geschichte der Menschheit hat es jede denkbare Grausamkeit gegeben. Noch das absonderlichste Foltergerät wurde ersonnen, noch die niederträchtigste Entmenschlichung erprobt, noch die wirrste Lüge von den Massen geglaubt.
Die Frage ist nicht, warum etwas geschehen konnte. Alles kann geschehen, auch das Schlimmste. Die Frage ist, warum etwas zuvor nicht geschehen ist.
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Ich stelle immer wieder im Alltag fest, dass es eine ungleich verteilte Neigung zum politischen Bekenntnis gibt.
Wenn ein Mann Verschwörungstheorien über die Regierung durchs Fahrradabteil der Bahn ruft. Wenn ein Nachbar auf dem Friedhof über Politiker und Medien schimpft und die AfD lobt. Wenn ein Physiotherapeut auf einmal ein extrem rechtes Onlinemedium für interessant erklärt. Oder wenn ein Kellner beim Plaudern unvermittelt einen extrem rechten Podcast empfiehlt.
Es ist selten so, dass man ungefragt die taz empfohlen bekommt oder dass jemand in der U-Bahn dringend darüber sprechen will, dass die Planungsbeschleunigung für den Ausbau von Windkraftanlagen eine wirksame Maßnahme ist.
Es ist meistens irgendeine extreme These oder Theorie, es sind selbst ernannte Alternativmedien, die empfohlen werden. Ich kenne keine Studie, keine kluge Theorie, die diesen Mitteilungsdrang erklärt.
Der Eindruck, etwas entdeckt, sich eine geheime, womöglich gar dissidente Informationswelt erschlossen zu haben, mag eine Rolle spielen. Leider ist diese graue Literatur heute allzu oft braune Literatur. Vielleicht das aufregende Gefühl, auf einmal eine machtvolle Deutung der Wirklichkeit zur Verfügung zu haben.
Ganz sicher gäbe es diesen Mitteilungsdrang nicht, hätte man nicht das Gefühl, dass man damit anschlussfähig ist. Hätte man den Eindruck, dass ein bestimmtes Portal verpönt ist, würde man sich nicht lose Bekannten oder Fremden so offenbaren.
Für mich ist das ein entscheidendes Zeichen dafür, dass sich Tabus aufgelöst haben. Ich glaube nicht, dass es sich dabei immer um eine bewusste Raumnahme handelt, um eine Strategie. Aber sie findet dennoch statt.
Was zur Schlussfolgerung führt: Ich glaube, die Demokraten müssen ihre Scheu ablegen, die eigenen Positionen öffentlich und offensiv zu vertreten. Sie müssen bereit sein, zu nerven. Die anderen sind es auch.
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Als mir der oben erwähnte Kellner einmal einen Podcast von sehr weit rechts nahelegte, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, genauso selbstverständlich wie die Zeitung, die vor mir lag, war ich kurz ratlos. Ich wollte keine Diskussion anzetteln, nicht dagegenhalten, ich hatte es ja gar nicht auf eine politische Unterhaltung abgesehen. Also murmelte ich den Moment weg. Ich war in der Defensive.
Als er gegangen war, habe ich mich geschüttelt. Beim Bezahlen habe ich ihn dann gefragt, wie er auf diesen Podcast gekommen sei. Und ob er wisse, dass der Macher extrem rechts sei. Woraufhin er murmelte, das sage seine Frau auch immer. Er war in der Defensive.
Ich tue mir selbst schwer damit, aber ich glaube, man muss in jeder solchen Situation sich aktiv dazu bringen, Aussagen nicht stehenzulassen. Dazu muss man gar nicht scharf werden, das Gegenüber nicht verurteilen. Man muss vor allem selbstverständlich auftreten, weil es darum geht, klarzumachen, dass man natürlich keine extremen Podcasts hört, natürlich keine Verschwörungsmedien liest. Natürlich nicht.
Wenn jemand bewusst oder unbewusst das Handtuch der extremen Rechten auf dem Liegestuhl am Pool ausbreitet, dann muss man es ganz selbstverständlich und gelassen wegnehmen und das Handtuch der Demokratie an seine Stelle legen.
Damit ist nicht alles gewonnen, vielleicht nicht einmal viel. Aber wenn die anständige Mehrheit es nicht konsequent tut, greift das Extreme immer weiter Raum.
Es hat nicht dort zu liegen. So einfach ist das.
Dazu passt eine erste Analyse der SozialwissenschafterInnen Anselm Hager, Heike Klüver und Markus Kollberg. Wenn Sie hier regelmäßig mitlesen, erinnern Sie sich vielleicht an eine Umfrage, über die ich neulich einen Newsletter geschrieben habe: Es ging um die Frage, ob sich Ostdeutsche als Bürger*innen zweiter Klasse empfinden.
Ganze 59 Prozent sagen, Ostdeutsche würden sich so fühlen, aber nur knapp ein Drittel fühlt sich selbst so.
Die Forscher*innen sind auch darüber gestolpert und haben ein Experiment gestartet. Sie fragten Menschen in Brandenburg nach ihrer Wahlabsicht. Einem Teil gaben sie zu korrekte Information, dass sich nur eine Minderheit im Osten als Bürger*innen zweiter Klasse fühlt. Ein Teil bekam diese Information nicht.
Das Ergebnis: Diejenigen, die korrekt informiert wurden, waren weniger geneigt, die AfD zu wählen. Auch die Wahrnehmung der ostdeutschen Wirtschaft veränderte sich, sie wurde positiver.
Noch ist das keine richtige Studie, eine weitere Umfrage ist wohl unterwegs. Bis das alles wissenschaftlich sauber aufgeschrieben, geprüft und veröffentlicht ist, wird es dauern. Aber das erste Ergebnis finde ich trotzdem bemerkenswert.
Die (Fehl)-Deutungen über das, was die Mehrheit angeblich denkt, scheinen also unmittelbare politische Folgen zu haben. Ich halte das für plausibel, finde es aber sehr verdienstvoll, dass das jemand untersucht.
Eine ganz andere Frage, ein ganz anderes Thema: Was glauben Sie, seit wann Menschen wohl Kleidung tragen?
Das problem ist: Fasern zersetzen sich schnell, mit Fossilien allein lässt sich das schwer beantworten. Aber Wissenschaftler*innen haben herausgefunden, wann sich die Kleiderlaus von der Kopflaus abgespaltet hat. Vor ungefähr 100.000 Jahren war das. Um diese Zeit also dürften Menschen dazu übergangen sein, sich routinemäßig etwas überzuwerfen. Faszinierend.
Ich bin in einem Interview (+) mit einer Frau, die Steinzeitkleidung erforscht, darüber gestolpert, und dachte, das ist doch ein schönes Beispiel für die Klugheit der Wissenschaft und ein netter Party-Fakt obendrein.
Das hier ist der zehnte beimwort-Newsletter.
Ich hätte nicht gedacht, dass das so schnell geht. Ich hatte nie vor, ihn derart regelmäßig und häufig zu schreiben und kann auch nicht garantieren, dass es so bleibt. Es hat sich so ergeben, weil es mir wirklich Freude macht.
Ziel war es, einen Ort zu haben, um Gedanken und Gefühle zu ordnen, und bisher ist das sehr gut gelungen. Ich habe das Gefühl, ich werde klarer dadurch, ruhiger, präziser. Ich empfinde das Schreiben nicht als Pflicht, sondern als angenehme Routine. Vielleicht bleibt es so. Hoffentlich bleibt es so.
Was mich unglaublich freut: Jeden Tag abonnieren neue Menschen den Newsletter, es sind schon mehr als 850, und zwei- bis dreimal so viele lesen die Texte. Einige kommentieren oder schreiben mir, auf kluge, besonnene und nachdenkliche Art, die ich von Kommentaren und Zuschriften nicht mehr gewohnt bin.
Dafür einfach: danke!
Bleibt nur noch eins zu sagen: Wahrscheinlich ist es Ihnen längst aufgefallen, aber dies sind die Tage, in denen Nüsse und Eicheln fallen, manchmal, wie ich neulich beobachten konnte, weil Krähen sie beflissen eine nach der anderen vom Baum picken.
Das heißt auch, es sind wieder die Tage, in denen die Straßen und Parks und Gärten den Eichhörnchen gehören. Sie sind überall zu sehen, huschen herum, sammeln für den Winter, buddeln und vergessen, wo sie gebuddelt haben.
Dabei, das versteht sich von selbst, ist ihnen unbedingt nicht im Wege zu stehen. Denken Sie doch dran, wenn eines vorbeiflitzt, und machen Sie notfalls Platz.
Herzlich
Jonas Schaible
Eichhörnchen!
Tolle Analyse. Ich beschäftige mich viel mit dem Thema aber hier hab ich einige neue Erkenntnisse mitgenommen. Danke.