Danke für diesen gleichzeitig verstörenden und Hoffnung gebenden Beitrag! Zum Tabu-Thema: Ich gehöre der unmittelbaren Nachkriegsgeneration an und habe als Kind miterlebt, wie diese Tabus erst einmal mühsam aufgebaut werden mussten. Bei uns am Küchentisch hieß es noch (etwas verschämt), die fade Suppe schmecke "nach einem toten Juden". Solche und andere Redewendungen sind mit der Zeit nur ganz langsam unter einer dünnen Decke verschwunden. Heute kriecht das an allen Ecken als "Free Speech" wieder hervor. Aber auch anders herum: Vom Holocaust und alle den anderen Schrecken der Nazizeit sprach damals niemand. Es brauchte über zwanzig Jahre und die Berichte vieler Zeitzeugen, um wenigstens einem Teil unserer Generation die Augen langsam zu öffnen und die Schuld unserer Eltern anzuerkennen. Für große Teile der heutigen Jugend ist das jetzt wieder graue Geschichte, mit der sie nichts mehr zu tun hat.
Danke für alle ihre Newsletter, aber ganz besonders für diesen - auch wegen Paula i Karol.
"... dass eine Gesellschaft, die den Schutz der Tabus verlassen hat, weil sie das Tabu an und für sich für illiberal zu halten gelernt hat, ziemlich wehrlos dasteht, wenn sie konfrontiert wird mit Brutalität, Lüge, Schamlosigkeit und Hass."
Da könnte auch ein gedanklicher Widerspruch im progressiven Segment der Gesellschaft verborgen sein.
Der Antagonist des Tabus ist die Toleranz. Ein klassischer Wert der Aufklärung. Steht jetzt in vielen Debatten im Zentrum., wobei Angriff und Verteidiung die Seiten fast vertauscht haben, was das Toleranz-Segment der "Redefreiheit" angeht.
Ich vermute, die "Schutzlosigkeit" hat aber noch einen größeren Betreff als nur das, was man klassischerweise "Tabu" nennt. Auch die weicheren Verhaltensmuster sind ungeschützter als je zuvor. Sie heißen mal Anstand, mal Normen, Konventionen, Höflichkeit, Scham oder Menschlichkeit. Sie betreffen "Kultur" und "Tradition", "gewöhnliches Verhalten".
Und wie bei den Tabus haben auch beim Perforieren der Tradition die "Progressiven" die Tore mit aufgerissen.
Der französische Politologie Olivier Roy hat das analytisch beschrieben. Die Hauptthese zusammengefasst findet sich gerade auf dem Blog von Ian Leslie ):
"Wir brauchen aber immer noch gemeinsame Verhaltensnormen, um als Gesellschaft zu funktionieren. Deshalb haben wir anstelle der impliziten Kultur explizite 'Normen' eingeführt: Verhaltens- und Sprachregeln, die nicht gefühlt oder intuitiv sind, sondern artikuliert, kodiert und diskutiert werden. ... Ohne den Faktor Kultur bleibt nur noch Aushandeln übrig. Und dann ist alles politisch."
Wer hat nicht alles hat das gewollt? Jetzt IST alles angreifbar. Und alles kann jemand auch anders machen und anders sehen, als es einmal üblich war. Zumal wenn schon die Vernünftigkeit als Dialoggrundlage eine willkürliche Norm gilt, auf der sich längst nicht alle einigen wollen.
Resultat: "Clash of Cultures" nicht zwischen Kulturen, sondern innerhalb der Kulturen.
Wobei ja "aushandeln" immer eine Utopie war. Die kann aber, wie das mit Utopien so ist, auch zurückfeuern.
"Sobald verhandelt wird, bis zu welchem lässlichen Grad gelogen, diffamiert und attackiert werden darf, dringt Gewalt in die Verhandlungen ein - das ist im Grunde bereits eine Unterströmung der Tagespolitik-Influencer." ( https://x.com/Fritz/status/1838131729292214703 )
Ihr Artikel hat mich sehr berührt, er betrifft ja schließlich auch ein Thema von immenser Relevanz. Wenn ich mir eine Ihrer Haupt-Aussagen (unangemessen) verkürze, dann scheint mir die Argumentation wie folgt: Unter anderem sind es Tabus, die uns vor dem Abgleiten in die Barbarei schützen. Es müsse klarer vermittelt werden, dass diese Tabus im Interesse einer liberalen und demokratischen Gesellschaft akzeptiert werden sollten.
Im Gegensatz(?) zu Ihnen denke ich, dass das Aufweichen gesellschaftlicher Tabus (nur) ein Symptom für eine wesentliche, tieferliegende Verschiebung ist. Um diesen Gedanken zu begründen, hier eine persönliche Beobachtung, also "anekdotische Evidenz":
Im Mathematikunterricht habe ich jahrelang die Einkommenssteuerfunktion von den Schülern "erfinden" lassen. Ausgangspunkt war die Frage: Welche Eigenschaften muss die Einkommenssteuer haben, um der grundgesetzlichen Festlegung "Unser Land ist ein sozialer Rechtsstaat" zu genügen.
Für mehr als zwei Drittel der jeweils 30 Teilnehmer war schnell klar: Notwendig sind ein steuerfreies Existenzminimum, ein mit dem Einkommen steigender Steuersatz und einige andere Bedingungen. Die restliche Diskussion drehte sich dann nur noch um die konkreten Festlegungen der Parameter in DM oder Euro und heraus kam neben einer relevanten Anwendung von Mathematik auch ein gewisses Verständnis für die Rahmenbedingungen der Steuergesetze.
Dieses Thema kippte im Verlauf von nur etwa vier Jahren um 2010 herum unter anderem aus folgenden Gründen:
• Plötzlich finden zwei Drittel der Schüler die Vorstellung unerträglich ungerecht, dass Leute mit einem Jahreseinkommen von — sagen wir — 10 Millionen Euro auch nur 4 Millionen als Steuer bezahlen sollen. Sie fordern einen degressiven Verlauf des Steuersatzes oder sogar eine betragsmäßig lineare Kopfsteuer.
• Viele dieser Schüler sind Bildungsaufsteiger, die ersten in der Familie auf dem Weg zum Abitur. Sie glauben im Alter von 16, dass sie ja demnächst zu eben diesen Einkommens-Multimillionären gehören würden, und begründen ihre Haltung damit, dass sie für die vielen Millionen Steuer persönlich vom Staat keine gleichwertige Gegenleistung bekommen würden. In ihrem Bewusstsein ist ihr Verhältnis zum Staat das gleiche wie zu einem x-beliebigen Dienstleister; in anderen Worten, es ist ein privatwirtschaftliches, kein staatsbürgerliches Verhältnis.
Hier endet die Anekdote und es beginnt meine Interpretation.
Graduell änderte sich schon vor dem Fall der Mauer die Rolle der Schule in Westdeutschland (Hessen). Gegenüber dem in Deutschland ohnehin unterbewerteten Aspekt "Schule als Institution zur (Aus-)Bildung von Staatsbürgern" gewann der Aspekt "Schule als Dienstleister zum Qualifikationserwerb für das individuelle Fortkommen in der Konkurrenzgesellschaft" an Bedeutung. Diese Verschiebungen waren subtil, betrafen zunächst eher den "Geist" der Lehrpläne, aber vereinzelt auch Inhalte.
In den 1990ern nahm diese Tendenz an Fahrt auf. In Hessen war das verbunden mit dem Projekt "Neue Verwaltungssteuerung": staatlich-politisches (kameralistisches) Denken sollte umfassend durch privatwirtschaftliches (kaufmännisches) Denken ersetzt werden. Der Staat wird nun ausdrücklich zum Dienstleister, aus Behörden wurden "Agenturen" und Schulen werden zu konkurrierenden Service-Anbietern.
Inhaltlich wird die Gewichtsverschiebung jetzt deutlicher, angetrieben durch Schlagworte wie "Individualisierung" und "operationalisierbare Qualifikationen". Um die Auswirkung an einem kleinen Beispiel zu verdeutlichen: Aus "Referaten" werden "Präsentationen", die "Performance", das "sich gut verkaufen", gewinnt gegenüber dem Inhalt, der "Haltung", an Gewicht. Und: Die Mitschüler werden um Bewertung gebeten, also in eine verstärkte Situation der gegenseitigen Konkurrenz gebracht.
Die Schule ist damit nicht durchgehend zu einem Propagandainstrument neoliberaler Ideologie geworden. Die von mir angedeuteten, vielleicht unbedeutend erscheinenden Verschiebungen können aber als Symptome bedeutender gesellschaftlicher Entwicklungen betrachtet werden.
Ich denke, dass in wahrscheinlich sozialökonomisch eingrenzbaren Teilgruppen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen diese das Individuum heraushebende Menschenbild zu einer vulgärliberalistischen Einstellung führt, in der der Einzelne sich stark in Abgrenzung zur Gesellschaft definiert. Für viele Menschen ist die Gesellschaft dann nicht mehr ein Rahmen, der mir meine Individualität ermöglicht, sondern nur noch eine feindliche Umgebung, die mein freies Handeln einschränkt. Auf: "Wann fühlst du dich ganz frei?" lautet die Antwort immer öfter: "Wenn ich auf absolut niemanden irgend eine Rücksicht nehmen muss."
Meine These lautet also: Es hat seit etwa 1990 eine cezerstörerische Entwicklung gegeben beim Thema "der Einzelne und die Gesellschaft". Es handelt sich dabei nicht um einen vollständigen Umschwung, eher um eine Art von Diffusionsprozess. Das — meiner Meinung nach — Gift wirkte dem Wesen der Dinge nach eher bei Jugendlichen (nicht so sehr bei Kindern). Die Jugendlichen von 1995 haben jetzt das Alter von knapp 40.
Als ausgebildeter Naturwissenschaftler und Mathematiker habe ich jetzt geradezu den Drang abzuschließen mit:
Dein Text gibt mir etwas mehr Hoffnung - gerade jetzt sehr wichtig.
Du hast Recht, wir sind in der Mehrheit; aber leider orientiert sich die Mitte der 'Eliten' im Augenblick am rechten Rand, bis hin zur Übernahme ihrer Ziele. Ich kann die abendliche Tagesschau mit den Hetzereien von Merz und Co nicht mehr ertragen, das ist für mich das erste Mal in 45 Jahren politischer Sozialisation, dass es mich nicht aufregt, sondern ekelt. Selbst in den bleiernen Kohl-Jahren war es nicht so schlimm (oder glorifiziert man die Vergangenheit?).
Danke für diesen gleichzeitig verstörenden und Hoffnung gebenden Beitrag! Zum Tabu-Thema: Ich gehöre der unmittelbaren Nachkriegsgeneration an und habe als Kind miterlebt, wie diese Tabus erst einmal mühsam aufgebaut werden mussten. Bei uns am Küchentisch hieß es noch (etwas verschämt), die fade Suppe schmecke "nach einem toten Juden". Solche und andere Redewendungen sind mit der Zeit nur ganz langsam unter einer dünnen Decke verschwunden. Heute kriecht das an allen Ecken als "Free Speech" wieder hervor. Aber auch anders herum: Vom Holocaust und alle den anderen Schrecken der Nazizeit sprach damals niemand. Es brauchte über zwanzig Jahre und die Berichte vieler Zeitzeugen, um wenigstens einem Teil unserer Generation die Augen langsam zu öffnen und die Schuld unserer Eltern anzuerkennen. Für große Teile der heutigen Jugend ist das jetzt wieder graue Geschichte, mit der sie nichts mehr zu tun hat.
Danke für alle ihre Newsletter, aber ganz besonders für diesen - auch wegen Paula i Karol.
Hold Your own!
Werner Specht
"... dass eine Gesellschaft, die den Schutz der Tabus verlassen hat, weil sie das Tabu an und für sich für illiberal zu halten gelernt hat, ziemlich wehrlos dasteht, wenn sie konfrontiert wird mit Brutalität, Lüge, Schamlosigkeit und Hass."
Da könnte auch ein gedanklicher Widerspruch im progressiven Segment der Gesellschaft verborgen sein.
Der Antagonist des Tabus ist die Toleranz. Ein klassischer Wert der Aufklärung. Steht jetzt in vielen Debatten im Zentrum., wobei Angriff und Verteidiung die Seiten fast vertauscht haben, was das Toleranz-Segment der "Redefreiheit" angeht.
Ich vermute, die "Schutzlosigkeit" hat aber noch einen größeren Betreff als nur das, was man klassischerweise "Tabu" nennt. Auch die weicheren Verhaltensmuster sind ungeschützter als je zuvor. Sie heißen mal Anstand, mal Normen, Konventionen, Höflichkeit, Scham oder Menschlichkeit. Sie betreffen "Kultur" und "Tradition", "gewöhnliches Verhalten".
Und wie bei den Tabus haben auch beim Perforieren der Tradition die "Progressiven" die Tore mit aufgerissen.
Der französische Politologie Olivier Roy hat das analytisch beschrieben. Die Hauptthese zusammengefasst findet sich gerade auf dem Blog von Ian Leslie ):
"Wir brauchen aber immer noch gemeinsame Verhaltensnormen, um als Gesellschaft zu funktionieren. Deshalb haben wir anstelle der impliziten Kultur explizite 'Normen' eingeführt: Verhaltens- und Sprachregeln, die nicht gefühlt oder intuitiv sind, sondern artikuliert, kodiert und diskutiert werden. ... Ohne den Faktor Kultur bleibt nur noch Aushandeln übrig. Und dann ist alles politisch."
Wer hat nicht alles hat das gewollt? Jetzt IST alles angreifbar. Und alles kann jemand auch anders machen und anders sehen, als es einmal üblich war. Zumal wenn schon die Vernünftigkeit als Dialoggrundlage eine willkürliche Norm gilt, auf der sich längst nicht alle einigen wollen.
Resultat: "Clash of Cultures" nicht zwischen Kulturen, sondern innerhalb der Kulturen.
Wobei ja "aushandeln" immer eine Utopie war. Die kann aber, wie das mit Utopien so ist, auch zurückfeuern.
"Sobald verhandelt wird, bis zu welchem lässlichen Grad gelogen, diffamiert und attackiert werden darf, dringt Gewalt in die Verhandlungen ein - das ist im Grunde bereits eine Unterströmung der Tagespolitik-Influencer." ( https://x.com/Fritz/status/1838131729292214703 )
Ihr Artikel hat mich sehr berührt, er betrifft ja schließlich auch ein Thema von immenser Relevanz. Wenn ich mir eine Ihrer Haupt-Aussagen (unangemessen) verkürze, dann scheint mir die Argumentation wie folgt: Unter anderem sind es Tabus, die uns vor dem Abgleiten in die Barbarei schützen. Es müsse klarer vermittelt werden, dass diese Tabus im Interesse einer liberalen und demokratischen Gesellschaft akzeptiert werden sollten.
Im Gegensatz(?) zu Ihnen denke ich, dass das Aufweichen gesellschaftlicher Tabus (nur) ein Symptom für eine wesentliche, tieferliegende Verschiebung ist. Um diesen Gedanken zu begründen, hier eine persönliche Beobachtung, also "anekdotische Evidenz":
Im Mathematikunterricht habe ich jahrelang die Einkommenssteuerfunktion von den Schülern "erfinden" lassen. Ausgangspunkt war die Frage: Welche Eigenschaften muss die Einkommenssteuer haben, um der grundgesetzlichen Festlegung "Unser Land ist ein sozialer Rechtsstaat" zu genügen.
Für mehr als zwei Drittel der jeweils 30 Teilnehmer war schnell klar: Notwendig sind ein steuerfreies Existenzminimum, ein mit dem Einkommen steigender Steuersatz und einige andere Bedingungen. Die restliche Diskussion drehte sich dann nur noch um die konkreten Festlegungen der Parameter in DM oder Euro und heraus kam neben einer relevanten Anwendung von Mathematik auch ein gewisses Verständnis für die Rahmenbedingungen der Steuergesetze.
Dieses Thema kippte im Verlauf von nur etwa vier Jahren um 2010 herum unter anderem aus folgenden Gründen:
• Plötzlich finden zwei Drittel der Schüler die Vorstellung unerträglich ungerecht, dass Leute mit einem Jahreseinkommen von — sagen wir — 10 Millionen Euro auch nur 4 Millionen als Steuer bezahlen sollen. Sie fordern einen degressiven Verlauf des Steuersatzes oder sogar eine betragsmäßig lineare Kopfsteuer.
• Viele dieser Schüler sind Bildungsaufsteiger, die ersten in der Familie auf dem Weg zum Abitur. Sie glauben im Alter von 16, dass sie ja demnächst zu eben diesen Einkommens-Multimillionären gehören würden, und begründen ihre Haltung damit, dass sie für die vielen Millionen Steuer persönlich vom Staat keine gleichwertige Gegenleistung bekommen würden. In ihrem Bewusstsein ist ihr Verhältnis zum Staat das gleiche wie zu einem x-beliebigen Dienstleister; in anderen Worten, es ist ein privatwirtschaftliches, kein staatsbürgerliches Verhältnis.
Hier endet die Anekdote und es beginnt meine Interpretation.
Graduell änderte sich schon vor dem Fall der Mauer die Rolle der Schule in Westdeutschland (Hessen). Gegenüber dem in Deutschland ohnehin unterbewerteten Aspekt "Schule als Institution zur (Aus-)Bildung von Staatsbürgern" gewann der Aspekt "Schule als Dienstleister zum Qualifikationserwerb für das individuelle Fortkommen in der Konkurrenzgesellschaft" an Bedeutung. Diese Verschiebungen waren subtil, betrafen zunächst eher den "Geist" der Lehrpläne, aber vereinzelt auch Inhalte.
In den 1990ern nahm diese Tendenz an Fahrt auf. In Hessen war das verbunden mit dem Projekt "Neue Verwaltungssteuerung": staatlich-politisches (kameralistisches) Denken sollte umfassend durch privatwirtschaftliches (kaufmännisches) Denken ersetzt werden. Der Staat wird nun ausdrücklich zum Dienstleister, aus Behörden wurden "Agenturen" und Schulen werden zu konkurrierenden Service-Anbietern.
Inhaltlich wird die Gewichtsverschiebung jetzt deutlicher, angetrieben durch Schlagworte wie "Individualisierung" und "operationalisierbare Qualifikationen". Um die Auswirkung an einem kleinen Beispiel zu verdeutlichen: Aus "Referaten" werden "Präsentationen", die "Performance", das "sich gut verkaufen", gewinnt gegenüber dem Inhalt, der "Haltung", an Gewicht. Und: Die Mitschüler werden um Bewertung gebeten, also in eine verstärkte Situation der gegenseitigen Konkurrenz gebracht.
Die Schule ist damit nicht durchgehend zu einem Propagandainstrument neoliberaler Ideologie geworden. Die von mir angedeuteten, vielleicht unbedeutend erscheinenden Verschiebungen können aber als Symptome bedeutender gesellschaftlicher Entwicklungen betrachtet werden.
Ich denke, dass in wahrscheinlich sozialökonomisch eingrenzbaren Teilgruppen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen diese das Individuum heraushebende Menschenbild zu einer vulgärliberalistischen Einstellung führt, in der der Einzelne sich stark in Abgrenzung zur Gesellschaft definiert. Für viele Menschen ist die Gesellschaft dann nicht mehr ein Rahmen, der mir meine Individualität ermöglicht, sondern nur noch eine feindliche Umgebung, die mein freies Handeln einschränkt. Auf: "Wann fühlst du dich ganz frei?" lautet die Antwort immer öfter: "Wenn ich auf absolut niemanden irgend eine Rücksicht nehmen muss."
Meine These lautet also: Es hat seit etwa 1990 eine cezerstörerische Entwicklung gegeben beim Thema "der Einzelne und die Gesellschaft". Es handelt sich dabei nicht um einen vollständigen Umschwung, eher um eine Art von Diffusionsprozess. Das — meiner Meinung nach — Gift wirkte dem Wesen der Dinge nach eher bei Jugendlichen (nicht so sehr bei Kindern). Die Jugendlichen von 1995 haben jetzt das Alter von knapp 40.
Als ausgebildeter Naturwissenschaftler und Mathematiker habe ich jetzt geradezu den Drang abzuschließen mit:
QED
Hallo Jonas,
Dein Text gibt mir etwas mehr Hoffnung - gerade jetzt sehr wichtig.
Du hast Recht, wir sind in der Mehrheit; aber leider orientiert sich die Mitte der 'Eliten' im Augenblick am rechten Rand, bis hin zur Übernahme ihrer Ziele. Ich kann die abendliche Tagesschau mit den Hetzereien von Merz und Co nicht mehr ertragen, das ist für mich das erste Mal in 45 Jahren politischer Sozialisation, dass es mich nicht aufregt, sondern ekelt. Selbst in den bleiernen Kohl-Jahren war es nicht so schlimm (oder glorifiziert man die Vergangenheit?).
Grüsse aus dem sonnigen Hannover
Stefan