Man muss die Trolle nicht mehr füttern. Sie haben gelernt, zu kochen
Und Thomas Gottschalk fasst rein dienstlich Triggerpunkte an.
Dass ich einen Newsletter mal mit Thomas Gottschalk beginnen würde, das hätte ich auch nicht gedacht. Aber was soll man sagen? Gottschalk ist überall. Er erklärt, dass er früher nicht so viel nachgedacht habe über das, was er sagt, und jetzt müsse er das, und das sei schlecht. Ach, je.
Man könnte sich jetzt darüber auslassen, dass Nachdenken wirklich, wirklich keine Zumutung ist. Aber dazu müsste ich ihm ja glauben, dass er tatsächlich nicht wägt, was er öffentlich sagt, und das tue ich selbstverständlich nicht. Ich bin sogar sehr sicher, dass er genau weiß, was er sagen muss, um die Aufmerksamkeit zu bekommen, die er bekommt.
Er hat ein Buch zu verkaufen, und ich vermute, es läuft ganz gut. Was allerdings auch kein Wunder ist.
Wenig ist leichter, als Öffentlichkeit zu erzeugen, wenn man eine gewisse Plattform hat. Und wenig ist schwerer, als Öffentlichkeit so zu erzeugen, dass daraus eine produktive Auseinandersetzung wird, die irgendwen klüger macht statt nur aufgeregter.
Nicht, dass nicht auch gewitzte, kluge, bemühte Auseinandersetzung mit Gottschalks Interviews geschrieben würden, ganz sicher. Aber da ist einfach nicht mehr viel zu holen, wenn jemand so sichtbar zum Massageöl greift und rein dienstlich die Triggerpunkte der Gesellschaft anfasst.
Deshalb dazu auch nicht mehr. Lieber zur grundsätzlichen Frage, die daran hängt.
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Es ist eine der großen Fragen der medialen Gegenwart, wie man darauf reagieren kann und soll und muss, dass die Logik durchschaut ist, nach der Aufmerksamkeit zugeteilt wird.
Jeder kann wissen, was funktioniert, und er muss nur bereit sein, sich etwas zu bespötteln oder beschimpfen zu lassen – und die Sache in Mitleidenschaft zu ziehen.
Wenn es überhaupt eine Sache gibt, um die es geht, da haben es all jene, die an ernsthafter Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit interessiert sind, schwerer als jene, die vor allem an Auseinandersetzung interessiert sind.
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Einfach zu schweigen, es zu ignorieren, das würde schon funktionieren. Aber es funktioniert natürlich trotzdem nicht. Schon gar nicht bei Gottschalk, der eine zu präsente Figur in so vielen bundesdeutschen Leben ist. Aber auch sonst, weil irgendwer eben fast immer reagiert.
Man kann in einer pluralen, wildwüchsigen, freien Öffentlichkeit kaum einmal darauf setzen, dass niemand etwas thematisiert. Deshalb ist jede Strategie, die darauf setzt, dass alle zu einem Thema schweigen, in Wahrheit keine Strategie, sondern ein weltfremder Wunsch.
Erst recht, seit es so viele Möglichkeiten gibt, sich seine eigene Öffentlichkeit zu schaffen. Und dass zugleich andere Mittel und Wege bereitstehen, sich initiale Aufmerksamkeit zu erzeugen, die irgendwann andere Aufmerksamkeit anzieht, weil Aufmerksamkeit ein Rudeltier ist (ein bisschen wie Skandale, wie letzte Woche beschrieben).
Früher, in den Anfängen von Social Media, und vorher in Foren und Message Boards, da hieß es: Don’t feed the Troll. Füttere den Troll nicht. Dann wird er verschwinden.
In der alten Welt des Internets funktionierte das noch recht gut. Aber die Hälfte der Trolle hat längst gelernt, was ein Supermarkt ist und wie man kocht. Die Trolle brauchen kein Futter mehr, sie füttern sich selbst. Die andere Hälfte braucht kein Futter mehr, weil Bots nicht essen müssen.
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Wenn man heute auf X die Trolle zu ignorieren versucht, dann ist die eigene Timeline trotzdem voll von ihrem Unsinn oder, meistens, ihrer autoritären Propaganda. Wenn man sich Elon Musks öffentliche Auftritte, Interviews und Posts ansieht, wundert das nicht.
Leider ist X immer noch das einzige Soziale Medium, auf dem sich eine allgemeine Öffentlichkeit formiert. Nur dort werden Dinge geäußert, die massenmediale Anschlusskommunikation auslösen.
Das stelle ich in meinem Arbeitsalltag fest. Etwas Ähnliches stelle ich aber auch fest, seit ich diesen Newsletter schreibe. Über X kommen deutlich mehr Besucher und Abonnenten, selbst wenn Posts kaum geteilt, selten empfohlen und viel seltener gelesen werden als früher.
Immerhin, ich merke auch, dass ich häufiger schon angefangen habe, einen Tweet zu tippen, um ihn dann in mein Notizdokument zu heben, nicht absenden und den Gedanken hier zu verwenden.
Ich bin noch dort, weil ich hauptberuflich mit massenmedialer Öffentlichkeit zu tun habe, aber man muss da weg, es bleibt wahr und wird ständig wahrer.
Vergangenen Sonntag hat Friedrich Merz, der CDU-Kanzlerkandidat bei Caren Miosga über die Schuldenbremse gesprochen und er hat dort gesagt, die Bundesländer hätten anders als der Bund keine Konjunkturkomponente.
Das war: falsch. Die Länder dürfen kein strukturelles Defizit haben, aber wenn die Konjunktur besonders schlecht läuft, dann dürfen sie etwas mehr Schulden machen, ebenso wie der Bund. Es stimmt, dass es unterschiedliche Regeln gibt für Bund und Länder, aber die Kernmechanik der Schuldenbremse hat er offensichtlich nicht verstanden oder nicht parat gehabt.
Merz’ Fehler wurde aufgegriffen, löste aber wenig Anschlusskommunikation aus, nicht so viel, dass Zeitungen landauf, landab eingestiegen wären. Das allein ist bemerkenswert.
Ich erinnere mich noch an aufgeregte Diskussionen darüber, ob Robert Habeck wisse, was Insolvenzen sind. Obwohl Ökonomen damals sagten: im Grunde stimme, was er gesagt habe. Auch da war ein Talkshowauftritt der Auslöser.
Ich halte die Verwechslung von Konjunkturkomponente und strukturellem Defizit für einen politisch letztlich unerheblichen Fehler, schon gar nicht für einen Skandal. Aber natürlich ist so ein Klopper für einen Mann, der als Wirtschaftsfachmann auftritt und wahrgenommen wird, und der seinen Wahlkampf unter anderem darauf ausrichten will, schon etwas, das wahrgenommen werden könnte.
Zumal Kanzlerkandidat*innen unter besonderer Beobachtung stehen. Ich erinnere mich gut, wie sich der Blick auf Annegret Kramp-Karrenbauer sofort veränderte, als sie Parteichefin war und damit Kanzlerkandidatin in Erwartung. Oder auf Armin Laschet. Oder auf Annalena Baerbock oder Martin Schulz. Die Scheinwerfer sind sehr viel heller.
Ich vermute, dass man im Konrad-Adenauer-Haus seit dieser Woche etwas gelassener auf den Wahlkampf schaut und im Willy-Brandt-Haus ein Stück weniger gelassen.
Ich habe es vergangene Woche schon erwähnt, es folgt eine kleine Newsletterpause, von mindestens zwei oder drei Wochen. Zwischen dieser und der nächsten Ausgabe liegt ganz sicher die Wahl zum US-Präsidenten. Oder, hoffentlich, zur US-Präsidentin.
Die gute Nachricht aktuell lautet: Es sieht nicht ganz schlecht aus für Kamala Harris. Die schlechte Nachricht lautet: Es sieht auch nicht ganz schlecht aus für Donald Trump.
Sie kennen das alles: Die Auswirkungen kleiner Verschiebungen in Swing States und sogar einzelnen Wahlbezirken in Swing States (+) können so groß sein, dass von einem deutlichen Sieg der einen zum deutlichen Sieg des anderen alles drin ist.
Was ich interessant finde, aber in der Substanz nicht bewerten kann: Dass es in den USA nun schon eine Debatte darüber gibt (+), ob auch Umfragen von parteinahen (republikanischen) Instituten genutzt werden, um die Mittelwerte der Umfragen zu verschieben. Das würde den Eindruck zu erwecken, es laufe besser für Trump, als es läuft.
Wie gesagt, ich kann das nicht bewerten, aber es würde mich keine Sekunde überraschen, wenn es so liefe.
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Ich neige ja nicht dazu, einzelne Schlüsselmomente zu überhöhen, aber diese Wahl wird leider genauso entscheidend, wie alle sagen. Weil sie Strukturen verändern wird, wenn Trump gewinnt: der US-Demokratie, der Nato, der Beziehungen zwischen USA, EU und Russland, auf verschiedene Weise, der globalen Ordnung, nicht zuletzt des Klimaschutzes.
Wenn wir uns das nächste Mal lesen, werden wir wissen, wie es ausging. Machen Sie sich nicht verrückt bis dahin. Wenn es schiefgeht, haben Sie danach noch genug Zeit dafür.
Herzlich
Jonas Schaible
Es lohnt sich, Dirk Ehnts und Maurice Höfgen zu folgen, auf welcher Plattform auch immer. Die verbreiteten Vorstellungen von Geld, Schulden und dem, was passiert, wenn Staaten mehr Geld ausgeben, als sie einnehmen, sind größtenteils falsch und gerade in Zeiten des Umbruchs nicht zielführend.
Daran hängen auch die unterschiedlichen Haushaltsregeln für Bund, Länder und Gemeinden. Wenn wir denen den Spielraum einräumen wollen, den sie zum Gestalten brauchen, können wir das einrichten. Dass letztere nicht wirklich gestalten können, ist also keine Naturgesetzlichkeit, sondern es soll so sein. Und das sagt etwas aus über die, die das so eingerichtet haben. Leider nichts Gutes.