Die wahrscheinlich wichtigste Grafik dieses Bundestagswahlabends
Von ihrer Deutung hängt ab, ob eine Regierung zusammenarbeiten kann oder nicht.
Ich habe den Großteil des Abends im Konrad-Adenauer-Haus verbracht und wie das so ist, wenn man aktuell schreiben muss und zwischendurch mit Menschen redet und SMS schreibt und telefoniert: Man hat gar nicht viel Zeit, sich durch all die Grafiken zu wühlen.
Also sich den Fragen zu widmen, die da lauten: Wer genau wählte wen und wo? Was waren die wichtigsten Themen?
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Das habe ich jetzt nachgeholt. Früher hätte ich das getwittert, um es wiederzufinden. Jetzt also hier. Ich will nur zwei, drei der interessantesten Beobachtungen sammeln und festhalten – darunter die eine, um die sich eine Deutungsschlacht entwickeln wird, von der sehr, sehr viel abhängt.
Es geht um die Wählerwanderung der Union:
Diese Berechnung der Wählerwanderung ist umstritten, aber wir nehmen sie mal hin, weil sie auch öffentlich Wirkung entfaltet. Wir sehen massive Gewinne von den Ampel-Parteien, rund 2,5 Millionen Stimmen. Wir sehen 900.000 Stimmen Verlust an die AfD.
Daraus werden sich zwei Deutungen ergeben.
Deutung eins geht so: Die Union hat selbst mit ihrer extrem harten Kritik an der Ampel noch so viele Stimmen enttäuschter Wähler*innen angezogen. Also hätte sie mit einem etwas verbindlicheren Kandidaten oder Wahlkampf in der Mitte noch viel mehr Potenzial gehabt. Zugleich hat ihr selbst der Tabubruch und der extrem harte Migrationskurs (Stopp der Migration durch Zurückweisungen! Drittstaatenmodell!) keine Netto-Gewinne von der AfD eingebracht. Sondern sogar Verluste. Es handelt sich also um einen Irrweg, der Tabubruch war ein großer Fehler. Das Agenda-Setting der Union hat der AfD Stimmen zugetrieben.
Deutung zwei geht so: Die Union hat selbst mit ihrer extrem harten Kritik an der Ampel noch so viele Stimmen enttäuschter Wähler*innen angezogen. Also hätte sie ruhig noch weniger Rücksicht nehmen können und sich noch klarer profilieren dürfen. Sie war offensichtlich nicht hart genug und nicht glaubwürdig genug in Migrationsfragen und ohne den Tabubruch wäre sie noch stärker ausgeblutet nach rechts. Die Politik der Ampel hat der AfD Stimmen zugetrieben.
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Der Witz ist natürlich, dass es kein kontrafaktisches Szenario gibt, keine alternative Wirklichkeit, in der man prüfen könnte, wie es ausgegangen wäre mit Hendrik Wüst als Kandidaten oder ohne den Tabubruch. Die Information steckt auch nicht in den Wählerwanderungsdaten. Es kommt also darauf an, wer seine Deutung besser plausibel machen kann.
Mir scheint die erste Deutung sehr viel plausibler, weil sie sich mit sehr viel Forschung aus vielen Jahren deckt: Wenn man die Themen der extremen Rechten groß macht, dann gewinnt sie auch. Wenn man den Menschen mit drastischen Worten erzählt, dass es jetzt reicht und dass Zuwanderer alles unsicher machen, gehen viele zu denen, denen sie mit Recht die wenigsten Skrupel unterstellen, wenn es um Härte gegen Migrant*innen geht.
Aber man weiß es nicht.
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Wenn sich die Deutung eins durchsetzt, dann kann es sein, dass diese Koalition, die sich da finden muss, halbwegs gut zusammenarbeitet, dass das Land ein bisschen zur Ruhe kommt.
Wenn sich Deutung zwei durchsetzt, dann wird eine Koalition aus Union und SPD, erst recht eine aus Union, SPD und Grüne unter so großer Spannung stehen, dass mir die Fantasie fehlt, wie die geräuschlos, konzentriert und wirkungsvoll regieren soll.
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So oder so, das habe ich in meinem Text vom Abend beschrieben (+), zeigt schon dieser Abend, dass Politik jetzt wieder ganz in der Wirklichkeit angekommen ist:
„Es ist auch ein Vorgeschmack auf das, was Merz von jetzt an erwartet (…): Er ist abhängig von so vielen Faktoren, die er selbst nicht oder nur überschaubar beeinflussen kann. Politik ist nicht nur eine Frage des Willens und der Entschlossenheit, sondern auch der Möglichkeiten.“
Man kann die Sehnsucht nach dem großen Knall zwar schüren, aber man kann dann, als ernsthafter Politiker in einem Rechtsstaat und einem parlamentarischen System, diese Sehnsucht nicht stillen.
Politik ist nicht zackpuff, Faust auf den Tisch, Finger in die Luft, Problem erkannt, Problem gelöst. Politik ist komplex, weil Gesellschaften komplex sind und die Probleme der Welt auch.
Alles hängt jetzt davon ab, ob die Union mit dieser Erkenntnis ihren Frieden macht und ob sie es schafft, das zu tun, was »Politikwechsel« auch meinen könnte: gut zu regieren, nicht schneidig, sondern präzise.
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Aber auch im Szenario, in dem sie das versucht, kann es sein, dass eine solche Regierung an den Herausforderungen oder auch nur den Erwartungen scheitert.
Deshalb wäre ein Dreier-Bündnis aus Union, SPD und Grünen so gefährlich – dann wären in einer Regierung alle drei demokratischen Parteien, die Anspruch aufs Kanzleramt geltend machen können, auf einmal verbrannt.
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Ob sie das kann, das hängt maßgeblich davon ab, ob sie Geld zur Verfügung hat, und eine Sache ist jetzt schon klar: Union, SPD und Grüne zusammen haben keine Zwei-Drittel-Mehrheit. Also können sie zusammen die Verfassung nicht ändern, also können sie die Schuldenbremse nicht reformieren.
Dafür brauchen sie, mindestens, die Linke. Eventuell das BSW.
Beide sind nicht prinzipiell gegen eine Reform, sogar dafür – aber ganz sicher werden sie nicht zustimmen, nur Schulden zu ermöglichen, die ins Militär gesteckt werden. Für Merz heißt das: Entweder er drückt die Reform, die er bisher nie offen angekündigt hat, noch durch, bevor der neue Bundestag sich konstituiert. Oder er muss den Pakt mit der Linken suchen und die Schuldenbremse weiter öffnen als erhofft. Oder er steht da wie Olaf Scholz, als Kanzler ohne Spielraum, als Friedrich Ohnegeld.
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Ob dieses Bündnis nötig sein wird, hängt am Ergebnis des BSW. Das wird gerade immer knapper und knapper, jetzt, um 00.30 Uhr.
Was sich zum BSW sagen lässt:
Die Idee, eine solche neue Partei könne die AfD schwächen, die ich nie plausibel fand, die aber viel geglaubt wurde, scheint eine irrige Idee gewesen zu sein. Wenn diese Wanderung stimmt, hat sie von keiner Partei mehr gezogen.
Auch wenn Unterstützer der These einwenden werden, sie habe ja viele Nicht-Wähler angezogen und davon wären viele ansonsten zur AfD gegangen. Kann sein, die Information steckt ebenfalls nicht in den Daten. Dann hätte das BSW aber immer noch die anderen Parteien deutlich stärker geschwächt.
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Die FDP scheint wirklich wieder aus dem Bundestag zu fallen. Christian Lindner hat im Fernsehen erklärt, dann werde er sich aus der Politik zurückziehen.
Was von seinen letzten Wochen in der Politik dann bleibt, das ist der »D-Day«. Das ist die gemeinsame Abstimmung mit der AfD. Seine Forderung, ein klein bisschen mehr Musk und Milei zu wagen. Die Aufweichung des Klimaziels. Und zuletzt die Forderung, reihenweise Behörden zu schließen, ebenfalls ein Milei-Musk-Imitat.
So tritt der Mann ab, der die ehrwürdige FDP länger geführt hat als jeder andere.
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Was ich bemerkenswert fand:
Im Osten finden sehr viel mehr Menschen als im Westen, dass es ungerecht zugeht; weniger denken, dass es gerecht zugeht. Aber fragt man nach den wichtigsten Themen, dann…
… ist soziale Sicherheit im Osten für weniger Menschen wahlentscheidend gewesen als im Westen. Inflation für beide gleichermaßen nachrangig.
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Zum Schluss die Linke, die aus dem politischen Nahtod auferstanden ist. Meine These: TikTok war der Defibrillator. Friedrich Merz’ Tabubruch war der Strom, der durch ihn hindurchfloss. Und die unterschätzte Sehnsucht eines nicht irrelevanten Teil der Gesellschaft nach etwas, das wirklich linke Politik ist, war der Notarzt, der das ganze erst möglich gemacht und den Patienten danach stabilisiert hat.
Was interessant ist: Linken-Wähler*innen machen sich große Sorgen wegen Russland.
Die Wähler*innenschaft hat sich stark verändert, mehr noch als die Partei durch den Weggang des Wagenknecht-Flügels. Wie das alles zusammenfindet, die Friedensbewegtheit der alten Linken mit den Ideen der neuen Anhänger*innen und Mitglieder, das wird sich noch weisen müssen.
So viel in aller Kürze von diesem Wahlabend.
Herzlich
Jonas Schaible
Ergänzung 2: Es ist ja bekannt, dass viele Deutsche im Ausland nicht die Chance hatten, rechtzeitig zu wählen. So knapp, wie das Ergebnis des BSW auszufallen scheint, halte ich es für durchaus vorstellbar, dass jemand klagt und ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass Gerichte sich das sehr genau anschauen müssen. Das könnte alles noch weiter verzögern und für Unsicherheit sorgen.
Und was ich nun in der Hektik dieses späten Abends ganz vergaß: Die AfD kommt in den ostdeutschen Bundesländern auf 32 (Brandenburg) bis 38 (Thüringen) Prozent der Zweitstimmen und gewinnt fast alle Wahlkreise. Dazu habe ich nichts Originelles zu sagen, deshalb ist es mir auch durchgerutscht. Aber es ist schon krass.
Zur AfD noch zwei Beobachtungen: Sie hat laut Wählerwanderung mehr als 1,8 Millionen Nichtwähler*innen angezogen. Ich weiß nicht, wann es so etwas zuletzt gab, in den vergangenen 20 Jahren jedenfalls nicht, so weit ich mich erinnere.
Auffallend fand ich auch eine Grafik, die zeigt, dass sie im Osten und im Westen quasi perfekt parallel wuchs oder verlor in den vergangenen Wahlen. Es gibt also keinen Aufholeffekt im Westen, aber auch kein Davonwachsen im Osten, nur eine sehr unterschiedliche Basis.