Wenn man steht, wo die Gleise enden, kann man nicht anders, als zu begreifen
Die Gesellschaft hat den Schutz des Tabus verloren.
Das Ende der Gleise im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
Die dritte und letzte Landtagswahl in Ostdeutschland in diesem Herbst ist vorbei, nach Sachsen und Thüringen jetzt Brandenburg. Die AfD landet bei fast 30 Prozent, bei denen unter 24 holt sie rund 32 Prozent, laut ARD-Nachwahlbefragung, der Abstand zu den 18 Prozent der SPD ist riesig.
Dazu gleich mehr, aber um dorthin zu kommen, zunächst ein gutes Jahrzehnt zurück in die Vergangenheit, in den ausklingenden Winter, kurz, bevor der Frühling sich wirklich bemerkbar macht.
Wir waren gerade in Polen unterwegs, auf Reisen. Am einen Tag haben wir Krakau bewundert, am nächsten ging es von dort nach Oświęcim, die Stadt, die auf Deutsch Auschwitz genannt wird.
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Von allen Orten, die an deutsche Gräueltaten erinnern, die ich gesehen habe, hat das KZ Auschwitz den intensivsten Eindruck hinterlassen. Vor allem Auschwitz 2, also Birkenau. Obwohl, oder gerade weil dort gar nicht mehr so viel steht.
In Auschwitz 1, hinter dem Eingang mit dem Schriftzug »Arbeit macht frei«, stehen vor allem Backsteingebäude und diese Baracken könnten auch etwas anderes sein. Moderne Kasernen vielleicht.
In Birkenau ist das anders. Man steht da in einer weiten Landschaft, sieht die Strukturen, die Anlage des Geländes. Überreste von Baracken, Zäune, Wachtürme, ganz offensichtlich gemacht, um Menschen einzupferchen, denen jemand das Menschsein abgesprochen hat.
Von Gaskammer und Krematorium sieht man noch Ruinen. Was man unverändert sieht, sind Gleise, die enden.
Aus ganz Europa rollten die Züge heran, transportierten Menschen in den Tod, die irgendwo auf einer griechischen Insel losgeschickt worden waren. Hier endeten ihre Leben, ihre Geschichten.
An diesen Gleisen, die enden, kann man nicht anders, als zu begreifen.
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In Oświęcim gibt es ein jüdisches Zentrum mit Museum, und neben diesem Zentrum gibt es ein angeschlossenes Café. An jenem Abend fand im Keller dieses Cafés ein Konzert statt. Durch Zufälle und über Kontakte landeten wir dort, von der Band hatten wir nie gehört, aber eine schnelle Suche auf Youtube war vielversprechend, also gingen wir hin.
Es hat etwas Merkwürdiges, an diesem Ort ein Konzert besuchen, nach so einem Tag, als Deutscher zumal. Ich habe eine gewisse Befangenheit gespürt.
Dann begann die Band. Sie heißt Paula i Karol sie macht etwas, das man vielleicht moderne Folk Musik nennen könnte. Jedenfalls ist es wahnsinnig leichte, ungemein freundliche Gute-Laune-Musik, die ich immer noch sehr mag. Vor allem aber habe ich nie zuvor und niemals danach wieder Menschen so gelöst und strahlend auf einer Bühne gesehen wie Paula Bialski und Karol Strzemieczny.
Ich hatte den Eindruck, dass sich das sehr schnell auf das Publikum übertrug. Auf mich jedenfalls schon. Die Befangenheit verschwand.
Da stand ich, als Deutscher, im Café des Jüdischen Zentrums in Oświęcim, nur ein paar Kilometer von dort, wo die Gleise enden, zwischen Menschen aus wer weiß wo, vor einer polnischen Band und alles war selbstverständlich und leicht.
Ich war glücklich und die anderen waren es auch, glaube ich jedenfalls. Ich war glücklich und konnte dieses Glück kaum fassen.
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In meinen Zwanzigern war ich häufiger in Mittel- und Osteuropa unterwegs, der Gegend, die Timothy Snyder treffend Bloodlands genannt hat. Die Spuren deutscher Grausamkeiten waren nicht zu übersehen. Man kann nicht durch diesen Teil Europas reisen, ohne auf Spuren des deutschen Überlegensheitswahns und Vernichtungswillens zu stoßen.
Am Gedenkort für den Aufstand im Warschauer Ghetto oder dem jüdischen Museum. Im ehemaligen Ghetto in Riga. Im ehemaligen Ghetto Vilnius. An Oskar Schindlers Fabrik und dem Krakauer Ghetto. Am Donauufer in Budapest. In Chișinău, dessen Bevölkerung zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Hälfte jüdisch war, was selbst in der Erinnerung Moldaus fast vergessen ist. In Lwiw, in Kiew.
Man kann sich mit der Geschichte dieser Länder und Städte nicht befassen, wenn man sich nicht mit dem Nationalsozialismus, mit deutschen Verbrechen und deutscher Schuld befasst. Man stößt unweigerlich darauf. Es waren aber nicht nur Notwendigkeit oder Pflichtgefühl, die mich an jene Orte führten.
Ich hatte damals jedes Mal neu das Gefühl, dass es mich weiterbringt. Dass es bedeutsam ist, an diesen Orten zu sein.
Dass ich Neues lernte oder besser begriff, was ich theoretisch schon wusste. Dass ich etwas besser verstehen würde. Durch das, was Spezifisch ist an jedem Ort und auch durch das, was gar nicht spezifisch ist.
Durch die Wiederholung. Durch die Allgegenwart der Geschichten von Zerstörung, Mord, Demütigung. Und, umgekehrt, von Widerstand, Würde und Güte unter jenen, die ausgelöscht werden sollten.
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Ich denke heute wieder häufiger daran zurück. Natürlich habe ich nie geglaubt, dass Denkmäler, Museen und Gedenktage gegen die Wiederkehr von Rassismus und Menschenfeindlichkeit immunisieren (+).
Aber es fühlte sich doch ganz unmittelbar so an, als mache es einen Unterschied, dass es sie gibt. In mir hat es jedes Mal wieder etwas ausgelöst, verändert, verknüpft, entstehen lassen oder gefestigt. Ich glaube bis heute, dass es das auch bei anderen tut.
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Im Gegensatz dazu steht das Gefühl der Vergeblichkeit. Dieses Thema habe ich im ersten Newsletter schon einmal berührt: die Gefahr, bitter zu werden und zynisch. Oder auch: zu resignieren. Es nimmt eine ganz konkrete Form an, wenn es um die allgemein eher wachsende Zustimmung zu extrem rechten Parteien geht.
Ich führe seit Monaten ständig Gespräche mit Menschen, die sich große Sorgen machen. Sie sind oft auch überzeugt, dass es noch düsterer wird. Nicht nur, dass der Faschismus nicht nur wiederkehrt, das ist er längst, oder jedenfalls sind es politische Formationen, die ihm nacheifern oder ihm in vielem ähneln.
Sie sind überzeugt, dass er siegen wird. Dass er an die Macht kommt. Dass das nur noch eine Frage der Zeit ist.
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In besonders bedrohten Communities wird natürlich schon viel länger darüber geredet, wohin man flüchten könnte. Mittlerweile ist das aber auch in Kreisen der Fall, die erst einmal davon ausgehen könnten, nicht aufzufallen, durchzukommen, sich wegducken zu können. Das Exil ist wieder Thema.
Manchmal scherzhaft, oder zumindest verkleidet als Scherz, manchmal ganz ernsthaft; ab und an schon in sich wieder resigniert, in Form der Feststellung, dass es ja kaum irgendwo besser sei. Fast immer passiert es nur im vertraulichen Gespräch unter Freund*innen.
Zum einen, weil man nicht hysterisch klingen will, unvernünftig gar. Zum anderen will man der extremen Rechten nicht das Gefühl geben, dass sie gewinnt. Dieses Gefühl hat sie ja sowieso schon. Ganz sicher will sie es ausstrahlen, um einzuschüchtern.
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Damit sind wir bei den Wahlen, der AfD, die in allen Altersgruppen stark ist, bei den Menschen über 70 noch am schwächsten, was merkwürdig wenig Beachtung findet, und zunehmend eben auch sehr stark bei den Jungen.
Ein Team von Kolleg*innen um Sophie Garbe ist kürzlich in einer Titelgeschichte der Frage nachgegangen (+), warum die extreme Rechte unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen gerade wieder beliebter zu werden scheint. Darauf deuten Wahlergebnisse hin, Umfragen, aber auch Berichte von Menschen vor allem aus Ostdeutschland.
Auf Fotos und Videos aus Bautzen etwa, wo ein extrem rechter Aufmarsch den CSD gestört und eingeschüchtert hat, sieht man auffällig viele sehr junge Gesichter. Männer ohne Bart, Jugendliche ohne Scham, sich in Gegenwart von rechtsextremen Symbolen zu zeigen.
Die Mode der Neunziger ist seit geraumer Zeit wieder da. Mittlerweile ist es auch die Mode der Springerstiefelnazis jener Jahre. Die Gen Z sieht aus wie den Wendejahren entstiegen. Man hat den Eindruck, dass es mehr und mehr Milieus gibt, in denen es wieder cool ist, rechtsextrem zu sein. Ganz sicher es für sehr viele kein Tabu mehr.
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Dass gerade die Stimmanteile unter Jungen so viel Aufmerksamkeit bekommen und so viel Entsetzen auslösen, hat vermutlich mehrere Gründe. Manche Gründe sind schlecht begründet: Man glaubt, die Jugend sei fortschrittsfreudiger, zu Unrecht. Man hofft, sie würden alles besser machen als die Alten, nur warum sollte sie?
Andere Gründe sind sehr nachvollziehbar: Wer die Jugend auf seiner Seite hat, hat in einer alternden Republik noch lange keine Mehrheit, aber wird auf absehbare Zeit eine Rolle spielen. Die AfD-Ergebnisse unter Jungen sagen: Die Partei bleibt.
Sicher hat man auch geglaubt, dass all die Arbeit in Aufklärung und Aufarbeitung, bei allen Schwächen und blinden Flecken und systematischen Verzerrungen, die sie hat, nach und nach stabilisiert. Die AfD-Ergebnisse unter Jungen zeigen uns, dass es nicht so ist.
Schließlich sind die Jungen jene, die noch weniger gefestigte politische Überzeugungen haben. Die schneller auf Stimmungen anspringen sollten, der Erwartung nach. Die gerade aus einem Bildungssystem kommen, das ihnen vermittelt hat, was akzeptabel ist und was nicht.
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Ich bin überzeugt, dass nicht urplötzlich große Teile der westlichen Gesellschaften anders denken als vor ein paar Jahren. Gerade der Schock durch die Corona-Pandemie hat sicher etwas verändert, aber im Großen und Ganzen haben sich nicht so sehr die Einstellungen an sich geändert.
Geändert hat sich, und das lässt sich zeigen, vor allem, welche Themen als so wichtig empfunden werden, dass sie die politische Ausrichtung prägen. Und geändert hat sich auch die Struktur dessen, was tabuisiert ist und was nicht.
Zu Recht wird die Diskussion seit langem darüber geführt: über die Grenze des Sagbaren, die verschoben wird. Über das Overton-Window, das ein anderes Bild für die gleiche Idee ist.
Politik ist nicht nur der Austausch von Argumenten und guten Gründen. Politik ist immer auch Gefühl, Identität. Ist Zugehörigkeit, Intuition. Was die anderen denken, spielt eine Rolle.
Man kann Menschen schon dazu bringen, blau für grün zu halten, wenn nur ein paar wenige hartnäckig behaupten, blau sei grün. Natürlich beeinflusst das, was eine Gesellschaft für richtig und falsch, akzeptabel und inakzeptabel erklärt, das politische Gefüge.
Zwischen der Demokratie und rechtsautoritären Fantasien, zwischen dem Faschismus und den Menschen, die ihm wertlos sind, standen nie nur gute Argumente, innere Überzeugungen und einfühlsame Aufklärung, sondern immer auch: Tabus.
Es gab Dinge, für die man sich geschämt hat. Oder von denen man annahm, dass man sie nicht äußern kann. Weil sie geächtet waren. Davon sind nicht mehr viele übrig.
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Es ist atemberaubend, in welchem Tempo Tabus gefallen sind in den vergangenen Jahren.
Die AfD zeigt in KI-generierten Videos Landschaften und Menschen, die aus einem faschistischen Fiebertraum stammen könnten. Teile der rechtsextremen Szene redet wieder offen über etwas, was man Rassenkunde nennen könnte: angeblich genetisch bedingte Eigenschaften von Muslimen oder Frauen oder Linken.
Heute, in der Diskussionsrunde nach der Wahl, sagte der AfD-Vertreter, deutsche fühlten sich fremd im eigenen Land. Was man heute eben so im Fernsehen selbstverständlich sagt. Auf der AfD-Wahlparty sangen Anwesende ein Partylied über Abschiebung, jemand hielt ein Schild, auf dem er millionenfache Abschiebung fordert.
Man geniert sich nicht mehr, man genießt den Tabubruch. Man ist sich sicher genug, damit durchzukommen.
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Die Erosion des Tabus wurde über Jahre und Jahrzehnte aktiv betrieben. Die ganze Aufregung um Political Correctness, um Cancel Culture, Meinungsdiktatur und woke Gedankenpolizei wurde von einigen Akteuren gezielt befeuert, um extrem rechte, autoritäre Forderungen wieder sagbar zu machen. Man muss sich nur anschauen, wie wichtig diese Formeln in der extremen Rechten waren.
Nicht alle, die diese Debatten befeuerten, taten das mit diesem Ziel, wahrscheinlich noch nicht einmal die meisten. Extreme Propagandisten wendeten die Offenheit der offenen Gesellschaft gegen sie selbst, und die ließ es zu, führte teilweise sogar noch die Hand.
Das ist keine Anklage gegen alle, die am Sturz des Tabus mitgearbeitet haben, manche haben es in bester Absicht getan. Das ist auch nicht die Behauptung, dass die extreme Rechte nicht einen anderen Weg gefunden hätte, sich einen Weg in die Nähe der Macht zu bahnen. Vielleicht hätte sie einen gefunden.
Ich kann nur feststellen, dass eine Gesellschaft, die den Schutz der Tabus verlassen hat, weil sie das Tabu an und für sich für illiberal zu halten gelernt hat, ziemlich wehrlos dasteht, wenn sie konfrontiert wird mit Brutalität, Lüge, Schamlosigkeit und Hass.
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Man muss das ernst nehmen und man muss ernsthaft darüber nachdenken, wie man den Raum zurückgewinnt, wie man wieder zu erkennen gibt, wo die Grenzen dessen verlaufen, was eine Mehrheit noch für akzeptabel hält. Dazu ein andermal mehr.
Wichtig ist hier, dass es diese Mehrheit noch immer gibt. Man kennt aus der Psychologie den Effekt der minority salience: Was in der Minderheit ist, fällt stärker auf, hinterlässt einen stärkeren Eindruck. Fragt man Menschen beispielsweise, wie viele Muslime wohl in ihrem Land leben, überschätzen sie die Zahl auf groteske Weise. (Und je falscher die Wahrnehmung, desto größer das Ressentiment).
Ich glaube, dass das gerade auch mit der extremen Rechten passiert. In Sachsen, Brandenburg und Thüringen, vermutlich auch in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt steht eine große Minderheit der AfD nahe. In manchen Gegenden ist es auch eine Mehrheit. Im ganzen Land ist eine Mehrheit in weiter Ferne.
Auch wenn die extreme Rechte selbst natürlich glauben machen will, dass sie kurz vor dem Durchbruch steht. Dass sie immer nur wächst. Und auch wenn sie in sozialen Medien mittlerweile die Hoheit hat. Aber Bots gehen nicht zur Wahl.
Wir lassen uns verleiten, eine große Minderheit mit einer nahenden Mehrheit zu verwechseln.
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Ich lese in diesen Tagen mehr über das frühe 20. Jahrhundert als je zuvor. Trotzdem kriecht in mir diese Frage hoch, warum eigentlich? Was soll ich dabei lernen, was wir zu verstehen hilft, wenn all das, was ich in Birkenau, Krakau, Vilnius oder Riga gelernt habe, nicht mehr hilft, zu verstehen?
Ist es für den Lauf der Geschichte noch bedeutsam, dass es diese Gedenkorte gibt?Nicht nur für die Würde dieser Gesellschaften, für das Andenken jener, deren Leben und Geschichten ausgelöscht werden sollten.
Aber es muss bedeutsam sein. Jedenfalls ist es noch nicht nicht bedeutsam.
Niemand sagt, dass aus der großen Minderheit je eine Mehrheit wird. Sorge ist mehr als angebracht, Angst verständlich, aber Verzweiflung lähmt. Man muss gegen sie anarbeiten.
Eine Gesellschaft, die vom Tabu geschützt wurde, steht auf einmal einem neuen Gegner gegenüber. Ungeschützt. Sie muss jetzt lernen, wehrhaft zu werden.
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Einer meiner liebsten Songs von Paula i Karol heißt July, ich höre ihn regelmäßig im ausgehenden Winter, wenn der Frühling noch nicht ganz durchbricht, etwa zu jener Zeit, zu der ich damals in Oświęcim war. Wait for July, heißt es im Refrain, für mich ist das mit der Sehnsucht nach der Zeit verbunden, in der das Leben wieder leichter wird. Und mit der Gewissheit, dass diese Zeit kommt.
Im Song heißt es auch: Hold your own, was man übersetzen könnte mit: behaupte dich. Oder auch: verteidige dich.
Hold your own.
Herzlich
Jonas Schaible
Danke für diesen gleichzeitig verstörenden und Hoffnung gebenden Beitrag! Zum Tabu-Thema: Ich gehöre der unmittelbaren Nachkriegsgeneration an und habe als Kind miterlebt, wie diese Tabus erst einmal mühsam aufgebaut werden mussten. Bei uns am Küchentisch hieß es noch (etwas verschämt), die fade Suppe schmecke "nach einem toten Juden". Solche und andere Redewendungen sind mit der Zeit nur ganz langsam unter einer dünnen Decke verschwunden. Heute kriecht das an allen Ecken als "Free Speech" wieder hervor. Aber auch anders herum: Vom Holocaust und alle den anderen Schrecken der Nazizeit sprach damals niemand. Es brauchte über zwanzig Jahre und die Berichte vieler Zeitzeugen, um wenigstens einem Teil unserer Generation die Augen langsam zu öffnen und die Schuld unserer Eltern anzuerkennen. Für große Teile der heutigen Jugend ist das jetzt wieder graue Geschichte, mit der sie nichts mehr zu tun hat.
Danke für alle ihre Newsletter, aber ganz besonders für diesen - auch wegen Paula i Karol.
Hold Your own!
Werner Specht
"... dass eine Gesellschaft, die den Schutz der Tabus verlassen hat, weil sie das Tabu an und für sich für illiberal zu halten gelernt hat, ziemlich wehrlos dasteht, wenn sie konfrontiert wird mit Brutalität, Lüge, Schamlosigkeit und Hass."
Da könnte auch ein gedanklicher Widerspruch im progressiven Segment der Gesellschaft verborgen sein.
Der Antagonist des Tabus ist die Toleranz. Ein klassischer Wert der Aufklärung. Steht jetzt in vielen Debatten im Zentrum., wobei Angriff und Verteidiung die Seiten fast vertauscht haben, was das Toleranz-Segment der "Redefreiheit" angeht.
Ich vermute, die "Schutzlosigkeit" hat aber noch einen größeren Betreff als nur das, was man klassischerweise "Tabu" nennt. Auch die weicheren Verhaltensmuster sind ungeschützter als je zuvor. Sie heißen mal Anstand, mal Normen, Konventionen, Höflichkeit, Scham oder Menschlichkeit. Sie betreffen "Kultur" und "Tradition", "gewöhnliches Verhalten".
Und wie bei den Tabus haben auch beim Perforieren der Tradition die "Progressiven" die Tore mit aufgerissen.
Der französische Politologie Olivier Roy hat das analytisch beschrieben. Die Hauptthese zusammengefasst findet sich gerade auf dem Blog von Ian Leslie ):
"Wir brauchen aber immer noch gemeinsame Verhaltensnormen, um als Gesellschaft zu funktionieren. Deshalb haben wir anstelle der impliziten Kultur explizite 'Normen' eingeführt: Verhaltens- und Sprachregeln, die nicht gefühlt oder intuitiv sind, sondern artikuliert, kodiert und diskutiert werden. ... Ohne den Faktor Kultur bleibt nur noch Aushandeln übrig. Und dann ist alles politisch."
Wer hat nicht alles hat das gewollt? Jetzt IST alles angreifbar. Und alles kann jemand auch anders machen und anders sehen, als es einmal üblich war. Zumal wenn schon die Vernünftigkeit als Dialoggrundlage eine willkürliche Norm gilt, auf der sich längst nicht alle einigen wollen.
Resultat: "Clash of Cultures" nicht zwischen Kulturen, sondern innerhalb der Kulturen.
Wobei ja "aushandeln" immer eine Utopie war. Die kann aber, wie das mit Utopien so ist, auch zurückfeuern.
"Sobald verhandelt wird, bis zu welchem lässlichen Grad gelogen, diffamiert und attackiert werden darf, dringt Gewalt in die Verhandlungen ein - das ist im Grunde bereits eine Unterströmung der Tagespolitik-Influencer." ( https://x.com/Fritz/status/1838131729292214703 )