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Avatar von Werner Specht

Danke für diesen gleichzeitig verstörenden und Hoffnung gebenden Beitrag! Zum Tabu-Thema: Ich gehöre der unmittelbaren Nachkriegsgeneration an und habe als Kind miterlebt, wie diese Tabus erst einmal mühsam aufgebaut werden mussten. Bei uns am Küchentisch hieß es noch (etwas verschämt), die fade Suppe schmecke "nach einem toten Juden". Solche und andere Redewendungen sind mit der Zeit nur ganz langsam unter einer dünnen Decke verschwunden. Heute kriecht das an allen Ecken als "Free Speech" wieder hervor. Aber auch anders herum: Vom Holocaust und alle den anderen Schrecken der Nazizeit sprach damals niemand. Es brauchte über zwanzig Jahre und die Berichte vieler Zeitzeugen, um wenigstens einem Teil unserer Generation die Augen langsam zu öffnen und die Schuld unserer Eltern anzuerkennen. Für große Teile der heutigen Jugend ist das jetzt wieder graue Geschichte, mit der sie nichts mehr zu tun hat.

Danke für alle ihre Newsletter, aber ganz besonders für diesen - auch wegen Paula i Karol.

Hold Your own!

Werner Specht

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Avatar von Fritz Iversen

"... dass eine Gesellschaft, die den Schutz der Tabus verlassen hat, weil sie das Tabu an und für sich für illiberal zu halten gelernt hat, ziemlich wehrlos dasteht, wenn sie konfrontiert wird mit Brutalität, Lüge, Schamlosigkeit und Hass."

Da könnte auch ein gedanklicher Widerspruch im progressiven Segment der Gesellschaft verborgen sein.

Der Antagonist des Tabus ist die Toleranz. Ein klassischer Wert der Aufklärung. Steht jetzt in vielen Debatten im Zentrum., wobei Angriff und Verteidiung die Seiten fast vertauscht haben, was das Toleranz-Segment der "Redefreiheit" angeht.

Ich vermute, die "Schutzlosigkeit" hat aber noch einen größeren Betreff als nur das, was man klassischerweise "Tabu" nennt. Auch die weicheren Verhaltensmuster sind ungeschützter als je zuvor. Sie heißen mal Anstand, mal Normen, Konventionen, Höflichkeit, Scham oder Menschlichkeit. Sie betreffen "Kultur" und "Tradition", "gewöhnliches Verhalten".

Und wie bei den Tabus haben auch beim Perforieren der Tradition die "Progressiven" die Tore mit aufgerissen.

Der französische Politologie Olivier Roy hat das analytisch beschrieben. Die Hauptthese zusammengefasst findet sich gerade auf dem Blog von Ian Leslie ):

"Wir brauchen aber immer noch gemeinsame Verhaltensnormen, um als Gesellschaft zu funktionieren. Deshalb haben wir anstelle der impliziten Kultur explizite 'Normen' eingeführt: Verhaltens- und Sprachregeln, die nicht gefühlt oder intuitiv sind, sondern artikuliert, kodiert und diskutiert werden. ... Ohne den Faktor Kultur bleibt nur noch Aushandeln übrig. Und dann ist alles politisch."

Wer hat nicht alles hat das gewollt? Jetzt IST alles angreifbar. Und alles kann jemand auch anders machen und anders sehen, als es einmal üblich war. Zumal wenn schon die Vernünftigkeit als Dialoggrundlage eine willkürliche Norm gilt, auf der sich längst nicht alle einigen wollen.

Resultat: "Clash of Cultures" nicht zwischen Kulturen, sondern innerhalb der Kulturen.

Wobei ja "aushandeln" immer eine Utopie war. Die kann aber, wie das mit Utopien so ist, auch zurückfeuern.

"Sobald verhandelt wird, bis zu welchem lässlichen Grad gelogen, diffamiert und attackiert werden darf, dringt Gewalt in die Verhandlungen ein - das ist im Grunde bereits eine Unterströmung der Tagespolitik-Influencer." ( https://x.com/Fritz/status/1838131729292214703 )

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