Erschütterungen der Weltgewissheit
Was zum Teufel ist los und warum gewinnen ständig die Falschen?
Die Demokratie ist in Gefahr. Vor ein paar Jahren war das noch so etwas wie eine strittige Behauptung. Heute ist es eher ein Allgemeinplatz. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich die These schon wieder uninteressant finde, so gewöhnlich ist sie. Aber das würde bedeuten, Politik mit Ästhetik zu verwechseln. Sie bleibt wahr.
Nach der Trauer und der Sorge und der Feststellung, was da kommt, nun also die Analyse: Wie, bitte, sind wir an diesen Punkt gekommen? Wie wurde die extreme Rechte so stark? Wie Trump? Warum, zum Teufel, hat er wieder gewonnen und dann auch so flächendeckend?
Oder auch: Warum scheinen sich die Dinge selbst in Neuseeland so schnell zu wenden, auf ganz ähnliche Art, wo doch dort mit Jacinda Ardern vor wenigen Jahren noch eine Ikone des empathischen Progressivismus extrem erfolgreich war?
Ich versuche an dieser Stelle mal, ein paar Überlegungen zu notieren, die seit einer Weile in meinem Kopf herumschwirren. Belegen kann ich vieles davon nicht, und ich kenne Menschen, die das für Punditry halten könnten, für bloßes Herummeinen, große Thesen und große Gesten.
Aber ich skizziere es auch erst einmal hier, in meinem digitalen Notizblock – als Überlegungen.
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1. Propaganda
Wenn es um Medien geht, um Propaganda und Desinformation, beobachte ich zwei verbreitete Haltungen. Da sind diejenigen, die alles damit erklären, bevorzugt, dass von ihnen geliebte Positionen unpopulär sind. Da sind aber auch diejenigen, die sich darüber lustig machen. Die einen sagen: Die jungen Leute wählen wegen TikTok die AfD. Die anderen sagen: Ach, soll wieder TikTok schuld sein, ja?
Ich halte die erste Position für arg bequem, und die zweite für noch bequemer.
Es gibt den sehr falschen Satz, den Politzyniker gern fallen lassen, die an mächtige Kabalen glauben: Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten. Das ist natürlich Käse. Gerade weil Wahlen etwas ändern können, wurden sie erkämpft, unter großem Schmerz, Blut und unzähligen Jahren im Gefängnis.
Aber ich würde mir mal die Struktur borgen: Wenn Propaganda nichts ändern würde, würden nicht alle autoritären Bewegungen von Beginn an auf sie setzen – und zugleich freie Öffentlichkeit unterdrücken. Dann würden Diktatoren nicht Journalistinnen und Künstler inhaftieren. Dann würden nicht Putschisten immer gleich zu Beginn Radio- und Fernsehstationen besetzen. Dann gäbe es keine Parteizeitungen.
Wenn Beeinflussung nicht wirken würde, würde Werbung nicht ganze Branchen finanzieren und würden Parteien nicht sorgsam ihre Botschaften im Wahlkampf testen.
Aber das allein genügt nicht. Es muss Gründe geben dafür, dass diese Propaganda, die antritt gegen freie Öffentlichkeiten, so verfängt.
2. Strukturen
Wer parallele Entwicklungen in so vielen Ländern erklären will, der braucht Erklärungen, die nicht länderspezifisch sind. Österreich hat keinen Robert Habeck und kein Heizgesetz und trotzdem verloren die Grünen und gewann die extrem rechte FPÖ. Die USA haben ein ganz anderes Parteiensystem, haben Klimaschutz weitgehend ohne Zumutungen gemacht, und trotzdem gibt es einen Aufstand dagegen
Wer parallele und gleichförmige Entwicklung in so unterschiedlichen Kontexten über so lange Zeit erklären will, der muss nach großen Entwicklungen suchen, nach strukturellen Erklärungen.
Bei der Suche nach diesen Strukturen hilft es vielleicht, sich probehalber gedanklich von der Gegenwart zu entfernen und zu überlegen, welche Erklärungen auch noch aus der Zukunft sichtbar sein werden, welche Erschütterungen, welche Ereignisse.
Das Heizungsgesetz? Eher nicht. Allenfalls als Episode, die bestimmte Muster politischer Zerrüttung illustriert. Die Pandemie? Ganz sicher. Russlands Invasion der Ukraine, seine aggressive Außenpolitik? Fraglos.
Der Wandel der Öffentlichkeit? Sicherlich auch.
Smartphones überall, mobiles Internet, soziale Medien, Zusammenbruch von Gatekeepern, Zentralisierung von Botschaften hin zu Viralität, extrem rechte Einflussnahme, das ist alles anders als noch vor ein paar Jahren. Propaganda bleibt deshalb eine Erklärung, die man nicht verwerfen sollte. Der Schutz des Tabus ist verloren gegangen.
Es ist aber nur eine.
3. Normalitarismus
Da ist vor allem das, was ich Normalitarismus genannt habe. In den vergangenen grob 30 Jahren haben sich westliche Gesellschaften in atemberaubender Geschwindigkeit pluralisiert. Frauen in Führungspositionen, Frauen in Kabinetten, Frauen an der Spitze von Parteien und Regierungen, Schwule und Lesben in Regierungsverantwortung, man kann das an so vielen Beispielen durchdeklinieren.
Auf höchster Regierungsebene in den USA klingt das zum Beispiel so: Im Jahr 1997 übernahm die erste Frau das US-Außenministerium, 2001 der erste Schwarze, 2005 die erste schwarze Frau; 2008 kam der erste schwarze Präsident ins Amt, danach kandidierte die erste Frau als Präsidentin und diesmal die erste schwarze Frau.
Damit wird sichtbar, wie wenig plural die alte Normalität war und sie gerät allein dadurch unter Rechtfertigungsdruck.
Aus einem Text von 2018: “Aus der Welt, in der es normal war, unbewusst Privilegien zu genießen, weil man weiß, heterosexuell oder männlich war oder aus dem Westen kam, ist eine geworden, in der man zunehmend mit der Frage konfrontiert wird, ob das so gerecht ist. Das heißt dann: “Check your privilege!”. Mach dir mal klar, welche Privilegien du hast! Und arbeite daran, anderen nicht im Weg zu stehen.”
Das ist unangenehm, es führt die Abwehrreaktionen, der ganze “Anti-Woke”-Kampf dockt daran an.
Und es verändert die Selbstwahrnehmung, die Wahrnehmung der Bedeutung von politischen Themen - und es ermöglicht Allianzen, die vorher undenkbar waren. Ich habe das mal so genannt: Zwischen extremistischem, tief politischen Normalitarismus und hedonistischem Normalitarismus, der eigentlich überhaupt nicht extrem ist und sein will, nicht gegen die liberale Gesellschaft gerichtet ist.
Ich glaube immer noch, dass man den Aufstieg der extremen Rechten ohne diesen Mechanismus nicht verstehen kann.
Nur so erklärt sich, warum plötzlich so breite Bevölkerungsschichten offen sind für extrem rechte Parteien – viel mehr, als ein dazu passendes geschlossenes Weltbild haben. Obwohl sich die politischen Einstellungen im großen Stil nicht verschoben haben. Verschoben hat sich nur, was Menschen für besonders wichtig halten.
Aber es bleibt doch erklärungsbedürftig, warum sich bestimmte Deutungen so durchsetzen: Die Linke habe es mit Gender und Gleichheitsansprüchen, mit Post-Kolonialismus und Angriffen auf das kulturelle Erbe, mit Kritik an der Polizei und dem Rassismusvorwurf jetzt einfach übertrieben.
4. Schwindende Dominanz des Westens
Ich habe kürzlich das Buch »Maoismus« von Julia Lovell fertig gelesen. Für jemanden wie mich, der die Zeit Maos nicht erlebt hat, war daran vieles bemerkenswert.
Zwei Gedanken hatte ich immer wieder: Erstens, Wahnsinn, wie extrem diese Positionen waren, wie verbreitet und anschlussfähig Träumereien von globaler Revolution und Gesellschaftsumbau, und wie mild und moderat große Teile der progressiven Bewegungen dagegen heute in den vergangenen Jahren aufgetreten sind.
Zweitens, verblüffend, wie oft in dieser marxistischen Ideologie auch Fragen nach Gleichheit, nach Identität eine Rolle spielten. In Nepal, in Indien, in Peru. Diese hypermaterialistische, revolutionäre Bewegung, die sich auf das Land stützte, die Bauern, die verarmten Massen, ließ sich von Emanzipationsdebatten nie und nirgends trennen (was sie davon einlöste, ist eine ganz andere Frage). Wer also behauptet, die Linke habe erst kürzlich angefangen, über Identität statt Lohn zu reden, der betreibt Geschichtsklitterung.
Natürlich kommt dazu, dass es damals reale Dekolonialisierungsbewegungen gab, Kritik an imperaler Politik viel heftiger war, weil auch die Politik, gegen die sie sich richtete, viel heftiger war.
Was bei mir eine Frage aufgeworfen hat: Wieso waren die Abwehrreaktionen damals zwar heftig, aber auch so anders als heute?
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Eine These wäre: Damals gab es eine große Ressource, aus der man Lebensgewissheit und Status ziehen konnte, nämlich die Dominanz des Westens. Der Kommunismus wurde als Gefahr für diese Dominanz gewaltvoll angegangen, außenpolitisch sogar außerordentlich ruchlos und brutal, aber immer aus der Position der Stärke.
Man musste nicht tief in Weltpolitik stecken, um zu ahnen: Wir, die USA, der Westen, wir sind die Starken, wir formen die Welt, wir schützen unsere Interessen, wir ziehen Gewinne aus der Ordnung der Dinge. Solange wir nichts anbrennen lassen, liegen die Verhältnisse zu unserem Vorteil.
Was immer sich auch veränderte, da war doch eine die Gewissheit, dass wir ganz oben in der Weltmachthierarchie stehen. Es war, das wäre die These, jene Gewissheit, die andere Erschütterungen abpufferte.
Es ist das eine, Geschlechterverhältnisse und anderen Formen der Normalität in einer Welt in Frage zu stellen, in der man sich einigermaßen sicher ist, dass man seinen Platz an der Sonne im Großen und Ganzen sicher hat. Oder in einer Welt, in der das zweifelhaft geworden ist.
5. Die Ordnung der Weltmächte
Im Studium habe ich mich für Theorien der internationalen Beziehungen nie so richtig erwärmen können. Mittlerweile treibe ich immer mehr in Richtung des Gedankens, dass große Teile der politischen Entwicklungen Folgen der Großmächtedynamik sind.
Das hat einen einfachen Grund: Mir scheint es in so vielen Fragen um Kontrolle und Kontrollverlust zu gehen, um Unsicherheit und erschütterte Weltgewissheit. Und die Strukturen der internationalen Ordnung beeinflussen beides auf eine ganz grundsätzliche Art.
Es wird immer deutlicher, dass Chinas Aufstieg real und von Dauer ist, und dass China den USA sehr wahrscheinlich bald als Großmacht mindestens ebenbürtig ist. Weder die USA noch Europa können daran heute irgendetwas ändern, allein das ist ein Kontrollverlust.
Der russische Angriff auf die Ukraine hat bewiesen, dass auch heute noch Grenzverschiebungen, Eroberung und Unterjochung geschehen können. Und dass man dagegen im Zweifel nichts unternehmen kann. Nicht mit Drohungen, nicht mit Bitten, nicht mit Telefonaten und nicht mit Reisen, nicht mit Sanktionen und nicht einmal mit Waffenlieferungen. Der Bully macht einfach weiter.
Schon die Annexion der Krim, 2014, war eine erschütternde Ohnmachtserfahrung. Man vergisst das gern, aber 2016 war eine Zeit, in der die schwindende Weltgewissheit überall spürbar war. Die Invasion 2022 hat das noch einmal enorm verstärkt.
Man könnte in diese Reihe auch den internationalen Terrorismus eingliedern. Auch er, besonders der zwischenzeitliche Durchmarsch des IS, haben gezeigt: Wir sind verwundbar und noch die gewissenlosesten Tyrannen können sich durchsetzen. Dass Baschar al-Assad sich mit roher Gewalt und russischer Unterstützung gehalten hat, zählt ebenfalls dazu.
6. Das Angenehme und das Nützliche
Eine Folge der Dominanz des Westens im US-amerikanischen Jahrhundert war, dass sich das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden ließ.
Es stimmt, dass Freihandel und Globalisierung unterm Strich mehr Wohlstand schafft als Abschottung. Alle profitieren. Aber diejenigen, die die Regeln machten und die beste Ausgangslage hatten, profitierten etwas mehr. Also: wir.
Die Globalisierung war immer beides, im besten Interesse aller und im besonderen Interesse des Westens. Man sieht das jetzt: Es bleibt wahr, dass Globalisierung im besten Interesse aller ist.
Aber nun, da immer deutlicher wird, wie abhängig vor allem Europa ist, weil China wichtige Teile der Lieferketten für fast alle Zukunftstechnologien kontrolliert, wachsen die Zweifel. Ist es gut, sich so auszuliefern?
Denn das ist man, mehr und mehr. Gar nicht daran zu denken, was passiert, wenn China wirklich Taiwan angreift. Dann muss sich Europa entweder zu Sanktionen entscheiden, die in ihren Folgen jene gegen Russland weit, weit übersteigen – oder zusehen, wie China die Welt neu ordnet.
7. Die Pandemie
Als im Juni die Ergebnisse der Europawahl eintrudeln, da wurden sie natürlich immer mit der Wahl vorher verglichen: 2024 zu 2019. Man schaute, welche Parteien gewachsen sind, welche geschrumpft. Welche Themen wann Konjunktur hatten. Und ein Wort tauchte fast gar nicht auf: Corona.
Es spielt für die Analyse fast keine Rolle dass zwischen diesen Europawahlen die schlimmste Pandemie seit einem Jahrhundert lag, zwei bis drei Jahre des Ausnahmezustands, der heftigste Einschnitt in das Alltagsleben für einen Großteil der freien Gesellschaften.
Das Problem an der Pandemie ist, dass sie alle überall traf, es gibt also keine Möglichkeit, zu vergleichen, was sie angerichtet hat, weil es buchstäblich nirgends auch nur durch Zufall Leben gibt, die sie nicht berührt hat. Sie ist unsichtbar, gerade weil sie allgegenwärtig war.
Ich kann also auch nicht sagen, wie sie sich auf die Europawahl ausgewirkt hat. Aber ich sehe, dass sich in der Pandemie neue Allianzen zwischen Rechtsextremen und Maßnahmenkritikern ergeben haben, die wiederum während der von extrem Rechten angestachelten Bauernproteste eine mobilisierende Rolle gespielt haben.
Allgemein bin ich sicher, dass wir die Nachwirkungen der Pandemie noch immer unterschätzen. Es ist schlicht völlig unvorstellbar, dass die Erfahrung, derart ausgeliefert zu sein, keine Spuren hinterlässt.
Meine Vermutung: Die Wut auf den Staat ist bis heute so groß und womöglich ebenfalls unterschätzt, weil man die Unfähigkeit, mit der existenziellen Erschütterung umzugehen, umgelenkt hat auf die zweite Ebene der Erschütterung durch Lockdowns und Kontaktsperren. Viele tun bis heute so, als wäre das Leben nicht durch das Virus eingeschränkt gewesen, sondern nur durch die Politik.
8. Epochenbruch Klimakrise
Es ist schon auffallend: Ich weiß nicht, wann ich zuletzt ein Gespräch über die Klimakrise geführt habe, in dem jemand wirklich überzeugt war, dass sich alles zum Guten wendet. Egal, wo sie politisch stehen, wie sehr sich Menschen in ihrem Alltag davon beeinflussen lassen, ob sie sich für Klimaschutz einsetzen oder nicht – die Grunderwartung ist: Es ist alles vergebens.
Wenn ich Vorträge halte oder auf Podien sitze, dann rutsche ich oft in die Rolle des Optimisten, der ich gar nicht bin. Einfach, weil ich das fundamentale Scheitern des Klimaschutzes, eine Welt mit drei Grad und mehr Erhitzung bis Ende des Jahrhunderts mit allen Folgen, nur für möglich halte, nicht für gegeben.
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Es dämmert, dass es schwieriger wird, immer und immer schwieriger, gegen diesen Trend anzukämpfen und das Gute und Schöne zu sichern. Oder auch nur die Existenz. Was, wenn die besten Jahre vorbei sind?, die Frage habe ich vor Jahren in einem Text gestellt. Ich glaube, dass sie sich heute sehr viele stellen.
Es gibt eine Umfrage, die mich sehr beschäftigt. Mehr als 24 000 Menschen in 31 Ländern sollten sagen, ob sie es für wahrscheinlich halten, dass sie in den nächsten 25 Jahren wegen der Klimakrise ihr Zuhause verlassen müssen.
Insgesamt 38 Prozent sagten, dass sie es für wahrscheinlich halten. Mehr als ein Drittel in Italien. Fast die Hälfte in China, mehr in der Türkei, Brasilien, Indien. Selbst in Deutschland fast jeder Fünfte.
In einer EU-Umfrage sind die Zahlen für Deutschland sogar noch höher (36 Prozent glauben, dass sie in ihrem Leben umziehen müssen). Mehr als 70 Prozent der Europäer*innen gehen davon aus, dass sie sich in ihrem Leben anpassen werden müssen.
Die Zahlen sind enorm hoch und unterschiedlich plausibel, aber darum geht es hier nicht.
Entscheidend ist, wie verbreitet das Gefühl existenzieller Unsicherheit angesichts der Klimakrise schon ist, obwohl man angesichts der politischen Debatten und Realitäten meinen könnte, nur eine Minderheit sorge sich wirklich.
9. Zwischenbilanz: Ohnmachtserfahrungen in Folge
Eine Grunderfahrung des vergangenen Jahrzehnts war also: Die Dinge sind brüchig, gefährdet. Nichts ist sicher, schon gar nicht, dass es besser wird oder dass du auch verschont bleibst von den Härten der Welt. Eine Ohnmachtserfahrung reihte sich an die nächste.
Die wenigsten dürften alle Erschütterungen bewusst erfahren haben, aber alle haben einige davon bewusst erfahren. Die meisten sicher mehrere.
Die Weltgewissheit ist weg. Auch bei jenen, die beschenkt genug waren, sie auf die ein oder andere Art gehabt zu haben.
In einer Umfrage aus dem Jahr 2022 glauben Mehrheiten in sehr vielen Industrieländern, dass ihre Kinder finanziell einmal schlechter dastehen als sie, in Italien, Spanien oder Frankreich sind es rund drei Viertel oder noch mehr. Da ist wenig Zuversicht.
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Eine Sache ist zu ergänzen, sie war hier schon häufiger Thema: Natürlich erzeugt die Stärke von autoritären, extrem rechten Kräften selbst Erschütterungen der Weltgewissheit. Sie beunruhigt, sie wirft aus der Bahn.
Es geht hier nicht um eine einseitige Beziehung, Erschütterung stärkt die Autoritären. Da gibt es Wechselwirkungen. Der Autoritarismus schafft sich seine eigenen Voraussetzungen.
Dass er in solcher Lage profitiert, würde sich dann damit erklären, dass er verschiedene Angebote macht, Weltgewissheit herzustellen: Statusaufwertung durch Abwertung von anderen. Ohnmachtsreduktion durch Feindbildkonstruktion, denn Feinde kann man ausschalten, historisch ungünstige Strukturen nicht. Orientierungszuwachs durch neue Wahrheiten (Lügen).
10. Kaputte Altruismusmaschinen
Warum war es mal anders? Ausschließen kann man, dass Politiker und Journalisten einfach nicht besser und verantwortungsvoller waren. Ich kenne das 20. Jahrhundert natürlich als politischer Mensch nur aus Erzählungen und Lektüre, aber die lässt mich nicht glauben, dass die Eliten damals einen sehr viel besseren Job gemacht haben.
Und das, obwohl ich jedes Mal vor Stauen fast vom Stuhl falle, wenn ich ein altes Gespräch von Günter Gauss schaue, weil die Befragten nachdenken, bevor sie antworten, weil sie wirklich zu antworten versuchen und vor allem, weil auch Spitzenpolitiker keinerlei Scheu haben, gelehrt zu wirken. Im Gegenteil, sie wirken eher, als wollten sie so erscheinen. Das ist doch ein faszinierender Kontrast zu heute, aber macht den Kohl nicht fett.
Nein, sie konnten einfach nicht so viel kaputt machen, der Laden lief auch so. Die Dinge liefen in die richtige Richtung.
Bernd Ulrich und Hedwig Richter haben in ihrem Buch »Demokratie und Revolution« eine schöne Formel gefunden, nämlich die von den »Altruismusmaschinen« Demokratie und Markt, in die man beide nur aggregierten Eigennutz hineinstecken musste und am Ende kam Allgemeinwohl heraus. So stellte man sich das jedenfalls vor.
Jetzt muss man allerdings feststellen, dass die verdrängten Nebenfolgen heimkehren, nicht nur, aber vor allem in Form von Hitzewellen, Starkregen und lebensarmen Agrarwüsten.
Wohlstand und Stabilität durch das Auslagern von Treibhausgasen in die Atmosphäre und damit Klimaschäden in die Zukunft, von billiger, zehrender Arbeit und Umweltschäden in den Globalen Süden, das hat die Maschine am Laufen gehalten.
Diese Maschinen sind ins Stocken geraten, sie produzieren jetzt sichtbar nicht mehr nur Allgemeinwohl. In einer neuen Welt am Ende des US-amerikanischen Jahrhunderts funktionieren sie ohnehin nicht mehr wie zuvor. In alternden Gesellschaften ebenso nicht.
11. Gleichheit als historischer Zufall
Was an der ersten Hälfte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts außerdem historisch außergewöhnlich war, war die Ausdehnung des Wohlfahrtsstaats in großen Teilen des Westens.
Vergleichsweise hohe Steuern, gut organisierte Gewerkschaften und wachsende Sozialleistungen sorgten für eine relativ egalitäre Gesellschaft. Viele Lebensunsicherheiten wurden durch die Gewissheit abgefedert, dass die staatlichen Systeme einspringen, wenn etwas passiert. Zukunftsgewissheit wurde erzeugt, indem garantiert schien, dass Wohlstandszuwächse auch wirklich verteilt werden.
Nun ist wachsende Ungleichheit nicht neu. Es ist sogar so, dass Ungleichheit im vergangenen Jahrzehnt in den meisten Gesellschaften nicht sehr gestiegen ist, dass die Entwicklung in den Achtzigern und Neunzigern sehr viel extremer war.
Zugleich sieht man zunehmend, dass soziale Unsicherheit mit der Stärke der extremen Rechten zusammenhängt. Es ist zum Beispiel so, dass hohe Mieten die Neigung erhöhen, AfD zu wählen, wie eine aktuelle Studie zu Deutschland belegt; oder dass die britische extreme Rechte dort stark ist, wo der Brexit die größten Verheerungen angerichtet hat.
Erst nach und nach werden extrem rechte Parteien wirklich zu Parteien der ökonomisch Bedrohten. Da scheint etwas in Bewegung zu sein.
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Nur ist paradoxerweise auch etwas anderes immer wieder wahr gewesen. Es ist eben nicht so, dass jene, die unter ökonomischer Unsicherheit leben, deswegen zwingend politische Maßnahmen bejahen, die Abhilfe schaffen könnten. Nicht nur ökonomische Unsicherheit stärkt die autoritäre Rechte, auch der Kampf gegen ökonomische Unsicherheit kann sie stärken.
Es war jedenfalls historisch so, dass der Faschismus sich auch explizit in Abgrenzung und Feindschaft zu linken, progressiven Bewegungen formiert hat. Antimarxismus und Feindschaft zur Sozialdemokratie gehörten zum Weltbild. Es ist auch heute so, dass extrem rechte Parteien allenfalls langsam in Richtung mehr Wohlfahrt driften, weil sie üblicherweise stark in Hierarchien denken, weil sie eben gerade nicht glauben, dass alle Leben und Lebensweisen gleichwertig sind.
Zunehmend frage ich mich, ob die spezifische Verfasstheit der vor allem europäischen Nachkriegsgesellschaften, ihre vergleichsweise egalitäre Form, die starken Gewerkschaften, ihre vergleichsweise starke Umverteilung nicht auch ein historischer Zufall war.
Ob es nicht grob formuliert eine starke organisierte Arbeiterbewegung brauchte, die wiederum ein Folge der industriellen Arbeitswelt war, mit politischen Parteien, die ihre Ideen vertraten, die im richtigen Moment einflussreich waren, als nach der Zerstörung des zweiten Weltkriegs viele Institutionen neu geschaffen wurden, als nationale Bewegungen sich diskreditiert hatten, bevor ein Nachkriegsboom einsetzte, befeuert durch ein Überangebot billiger fossiler Energien.
Ob es also geschichtlicher Zufall war, der nicht wiederholbar ist.
12. Wo anfangen?
Wenn das so wäre, dann wäre eine der häufigsten Antworten auf die Frage, was dagegen zu tun sein könnte, weniger überzeugend, nämlich: eine gerechtere Gesellschaft schaffen.
Möglich, dass für eine gerechtere Gesellschaft dasselbe gilt wie für ein stabiles Klima – beides ist notwendig für massenweise Weltgewissheit, aber beides herzustellen, ist hochumstritten und kann selbst destabilisieren.
Was also sonst?
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Die Klimakrise ist ein Epochenbruch. Sie bleibt. Sie einzudämmen bedeutet nicht, die Erschütterungen zu stoppen. Die Erschütterungen werden mehr und heftiger werden – es geht aber darum, zu verhindern, dass sie noch schneller noch mehr und noch heftiger werden. Von der Stabilisierung der Weltgewissheit ist das weit entfernt. Zwingend nötig ist es umso mehr, wenn diese Analyse stimmen sollte.
Gegen neue Pandemien kann man sich nicht immunisieren, nur wappnen. Das geschieht nicht ausreichend, es wäre aber notwendig.
Russland lässt sich nicht einfach einhegen. Die Weltordnung lässt sich nicht einfach wiederherstellen. Das Ausmaß, in dem man ausgeliefert ist, lässt sich reduzieren, allerdings zu einem Preis.
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Zentrale Quellen der Erschütterung lassen sich also nicht oder nicht einfach aus der Welt schaffen.
Die große Aufgabe würde dann lauten, andere Möglichkeiten zu identifizieren, mehr Handlungsfähigkeit zu erzeugen, erschütterte Gewissheiten wiederherzustellen, Unsicherheit zu reduzieren. Sie müsste vielleicht lauten, Sicherheit und Gewissheit darin zu suchen, nicht zu herrschen und zu dominieren, nicht den Planeten auszubeuten; sich dort umzuschauen, wo Stabilität und Gewissheit unter unsicheren Bedingungen erfahren wird.
Alles nicht ganz leicht. Ich wünschte, ich wüsste, wie das geht. Aber niemand hat gesagt, dass es leicht wird.
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Böse Zungen würden sagen, dass 20 000 Zeichen über die Erschütterung der Weltgewissheit ohne Lösungsangebote nicht helfen, aber was wissen böse Zungen schon?
Und dann gibt es auch noch andere schlechte Nachrichten, eine Korrektur ist womöglich angebracht. Es sieht so aus, als würde der Tote-Lachs-Hut der Alt-Lachsundsechziger-Orcas vielleicht doch kein, naja, Revival feiern.
Falls Sie wider Erwarten auch mal etwas anderes lesen möchten als diesen stets munteren Newsletter, dann kann ich das Buch »Das All im eigenen Fell« von Clemens Setz empfehlen – allerdings nur, wenn Sie wie ich zu denen gehören, die mehr Stunden ihres Lebens auf Twitter verbracht haben, als gesund ist.
Twitter hatte viele schlechte Seiten (X hat fast nur noch schlechte Seiten), aber es hatte auch gute.
Setz hat Twitter selbst dafür genutzt, zu dichten, leicht, spielerisch, im Dialog. So haben es viele andere auch gemacht, viele anonym, in ihrer Freizeit, einfach so. Was daraus entstanden ist, wertschätzt, beschreibt und zitiert Setz als ganz eigene Form der Poesie. Er nimmt es als Kunst ernst. Er betrauert deren Verlust und er setzt ihr ein liebevolles Denkmal, als Archivar, als Beteiligter, als Leser.
Ob man damit irgendetwas anfangen kann, wenn man mit bestimmten Formen des Schreibens auf Twitter, bestimmten schrägen Konventionen, bestimmten Motiven und Witzen nicht vertraut ist, das vermag ich nicht einzuschätzen. Wenn Setz Recht hat und es war eine neue Form von Kunst, müsste es so sein. Vielleicht funktionierte sie aber nur an ihrem Ort und in ihrer Zeit.
An einem Ort, der nicht immer so böse und giftig war wie jetzt, sondern an dem viele von uns auch deshalb waren, weil es dort schön war. Weil dort Kunstwerke entstanden sind wie dieses:
es ist herbts
auf dem feld
DIE KÜRBEN
Herzlich
Jonas Schaible
Habe ihren Newsletter das erste Mal gelesen, sehr angenehm ihren Gedanken zu folgen.
Eine Anmerkung zu dem Absatz "Nun ist wachsende Ungleichheit nicht neu. Es ist sogar so, dass Ungleichheit im vergangenen Jahrzehnt in den meisten Gesellschaften nicht sehr gestiegen ist, dass die Entwicklung in den Achtzigern und Neunzigern sehr viel extremer war." Die ich gerne loswerden würde:
Ich denke das muss kein Widerspruch sein, dass früher die Ungleichheit stärker zugenommen hat, aber heute die "Wut" größer ist. Ich würde vermuten dass die Wut ein stark nachlaufender Faktor ist. "Damals" wurde ja noch sehr stark trickle-down versprochen, weshalb die Gesellschaft die wachsende Ungleichheit ein Stück weit erstmal hi genommen hat. Die Kinder von damals sind aber die erwachsenen von heute und die sehen zu einem großen Teil dass das Versprechen nicht eingelöst wurde. Das trifft auf eine Politik die gefühlt weniger Vertrauen genießt und auch irgendwie rumeiert (mein Gefühl) dieses nicht gehaltene Versprechen zuzugeben und entsprechende Konsequenzen zu ziehen. (Ein Friedrich Merz hat vermutlich wirklich an trickle down geglaubt und müsste jetzt fast sein ganzes Erwachsenenleben in Frage stellen und eine Kehrtwende vollziehen)
Sind auch nur unreine Gedanken ins Internet geschrieben, aber das wollte ich loswerden. Wir meinen hier ja auch nur rum ;-)
Ein schönes Wochenende an alle Leser
Zu dem Punkt der größeren Egalität der Nachkriegsgesellschaft möchte ich noch einen möglichen Aspekt hinzufügen. Ich denke, "Systemkonkurrenz" mit dem sog. real existierenden Sozialismus trug wesentlich dazu bei, den Kapitalismus den Menschen dienlich wirken zu lassen. Erst nach dessen Ende nahm der brutale Neoliberalismus so richtig Fahrt auf.
Herzlichen Dank für die überaus anregenden Gedanken dieses Textes.